Wilde Saat
dem sich noch vernünftig argumentieren ließ.
Doros Augen fixierten ihn.
»Ich gab dir meine Treue«, wiederholte Thomas, »und du weißt es. Ich habe mich dir nie widersetzt.« Er schütte l te langsam den Kopf. »Ich habe dich g e liebt – obwohl ich wußte, daß dieser Tag kommen würde.« Auffallend ruhig streckte er die rechte Hand aus und deutete auf Anyanwu. »Laß sie nach Hause zu ihrem Mann und ihren Kindern gehen!« sagte er.
Wortlos ergriff Doro die ausgestreckte Hand. Bei der Berührung sank der junge, glattgesichtige Körper, den er getragen hatte, zu Boden, und Thomas’ Kö r per, hager und voller Wunden straffte sich ein wenig. Mit angstgeweiteten Augen sah Anyanwu ihn an. Von einer Sekunde auf die andere hatten sich die Augen eines Freundes in die Augen eines Dämons verwandelt. War nun sie an der Re i he? Doro hatte nichts versprochen. Hatte seinem treuen Diener kein Wort der Huld geschenkt.
»Begrabe das!« befahl Doro ihr mit Thomas’ Stimme. Er wies auf seinen früheren Körper.
Anyanwu begann zu weinen. Scham und Erleichterung li e ßen sie sich von ihm abwenden. Er würde sie am Leben lassen. Thomas hatte ihr Leben gerettet.
Thomas’ Hand umspannte ihre Schulter und schob sie zu dem Leichnam hin. Anyanwu haßte Tränen. Warum war sie so schwach? Thomas hatte Stärke bewiesen. Er war nicht älter geworden als sechsun d dreißig, doch er hatte die seelische Kraft aufge b racht, Doro zu widerstehen und sie zu retten. Sie d a gegen war fast zehnmal so alt wie er, und sie weinte und zitterte vor Angst. Das hatte Doro aus ihr g e macht – und er konnte nicht verstehen, daß sie ihn haßte!
Er trat zu ihr und stellte sich vor sie hin. Sie nahm ihre ga n ze Kraft zusammen, um nicht vor ihm auf die Knie zu sinken. Er wirkte größer in Thomas’ Körper als Thomas selbst.
»Ich habe nichts, womit ich das Grab auswerfen kann«, wisperte sie. Sie erschrak über das Zittern in ihrer Stimme.
»Nimm die Hände«, sagte er.
Sie fand eine Schaufel in der Hütte. Während sie das Loch aushob, stand Doro in der Nähe und beobacht e te sie. Er machte keine Anstalten, ihr zu helfen. Er sprach kein Wort, noch ließ er sie auch nur einen Lidschlag lang aus den Augen. Nach einiger Zeit hatte sie das Grab ausgewo r fen – sie bebte am ganzen Leib. Das Graben hatte sie mehr e r schöpft, als es sein sollte. Die Arbeit war hart gewesen, und sie hatte sich keine Pause gegönnt. Ein Mann von ihrer Größe hätte das nicht so schnell geschafft – oder vielleicht doch, unter Doros starrenden Blicken.
Was mochte Doro jetzt denken? Hatte er immer noch die Absicht, sie zu töten? Würde er Thomas’ Körper zusa m men mit dem des namenlosen Mannes begr a ben und diesen Ort, bekleidet mit ihrem Fleisch, ve r lassen?
Anyanwu ging zu dem Leichnam des jungen Mannes und hüllte ihn in eins der Leinentücher, die Doro mitge b racht hatte.
Dann schleppte sie ihn zum Grab. Sie war versucht, D o ro um Hilfe zu bitten, aber ein Blick in sein G e sicht ließ sie schweigen. Er würde ihr nicht helfen. Er würde sie verfl u chen. Ein Schauder lief ihr über den Rücken. Seit dem Ve r lassen ihrer Heimat war sie nie mehr dabeigewesen, wenn er getötet hatte. Auch danach hatte er immer wieder get ö tet, aber es war im geheimen geschehen. Bei seiner A n kunft in Wheatley trug er den einen Körper, bei seiner A b reise einen anderen, aber er nahm den Wechsel niemals in der Öffentlichkeit vor. Außerdem verließ er die Stadt, s o bald er gewechselt hatte. Und wenn er einen längeren Au f enthalt vorgesehen hatte, richtete er es so ein, daß er den Körper eines Fremden trug. Er sorgte dafür, daß seine Le u te niemals vergaßen, wer und was er war, doch seine Warnu n gen erfolgten unaufdringlich und überraschend sanft. Wenn das anders gewesen wäre, dachte Anyanwu, während sie das Grab zuwarf, wenn Doro sich vor ihnen großg e tan hätte mit seiner Macht, wie er das jetzt vor ihr machte, w ä ren selbst seine treuesten Diener vor ihm davongelaufen. Die Art, wie er tötete, mußte einfach jeden Menschen mit Entsetzen e r füllen. Sie blickte zu ihm hinüber, sie sah in das schmale Gesicht von Thomas, das sie vor wenigen Stunden noch r a siert und dem sie ein erstes, zaghaftes Lächeln entlockt ha t te. Fröstelnd wandte sie den Kopf zur Seite.
Irgendwie brachte sie ihre Arbeit zu Ende. Sie ve r suchte sich an ein Gebet der Weißen zu erinnern, um es über dem Leichnam des unbekannten Toten zu sprechen, aber in D o ros
Weitere Kostenlose Bücher