Wilde Schafsjagd
passenderes Wort fiel mir nicht ein.
»Ein Hektar und siebenhundertundfünfundvierzig Quadratmeter«, sagte der Fahrer.
»Einen aktiven Vulkan haben Sie nicht?«, witzelte ich. Natürlich kam der Witz nicht an. Hier machte man keine Witze.
Auf diese Weise vergingen acht Minuten.
* * *
Das europäisch eingerichtete, etwa dreizehn Quadratmeter große Zimmer, in das man mich führte, lag gleich rechts neben dem Eingang. Die wahnsinnig hohe Decke war rundum von einer mit Schnitzwerk versehenen Zierleiste eingefasst. Zur Einrichtung gehörten ein solides antikes Sofa und ein ebensolcher Tisch, an der Wand hing ein Stillleben, Realismus in Vollendung. Apfel, Vase und Brieföffner. Vielleicht sollte man den Apfel mit der Vase teilen und dann mit dem Brieföffner schälen. Kerngehäuse und Kerne könnte man in die Vase tun. Am Fenster hingen Spitzenstores und dicke Übergardinen, jeweils mit passenden Bändern seitlich hochgerafft. Zwischen den Gardinen war ein relativ schöner Teil des Gartens zu sehen. Das Eichenparkett des Bodens spiegelte angemessen. Der den halben Boden bedeckende Teppich hatte trotz der verblichenen Farben noch vollen Flor.
Nicht übel, das Zimmer. Ganz und gar nicht übel.
Ein älteres Dienstmädchen im Kimono kam herein, stellte ein Glas Traubensaft auf den Tisch und ging ohne ein Wort zu sagen wieder hinaus. Klackend schloss sich hinter ihr die Tür. Danach war wieder alles still.
Auf dem Tisch stand ein silbernes Raucherset, wie ich es im Auto gesehen hatte: Feuerzeug, Zigarettenetui, Aschenbecher. Und auf jedem Teil war wieder das gleiche Schafwappen eingraviert. Ich zog meine eigenen Filterzigaretten aus der Tasche, zündete mir mit dem silbernen Feuerzeug eine an und blies den Rauch zur Decke hoch. Dann trank ich Traubensaft.
Zehn Minuten später ging wieder die Tür auf, und herein kam ein großer, in einen schwarzen Anzug gekleideter Mann. Der Mann sagte weder »Guten Tag« noch »Verzeihen Sie die Verspätung«. Ich sagte auch nichts. Der Mann nahm schweigend mir gegenüber Platz, neigte leicht den Kopf und taxierte mich eine Weile. Er zeigte nicht das geringste Mienenspiel, genau wie mein Partner gesagt hatte.
Die Zeit tröpfelte dahin.
FÜNFTES KAPITEL
Briefe von Ratte – Erinnerungen
1. DER ERSTE BRIEF VON RATTE
(Poststempel vom 21. Dezember 1977)
Na, wie gehts?
Wir haben uns ja schon ewig nicht mehr gesehen. Wie viele Jahre werden das jetzt her sein?
Ja, wie viele?
Allmählich verliere ich jedes Gefühl für Zeit. Zählen kann ich höchstens bis drei – mir ist, als ob eine blödsinnige Krähe auf meinem Kopf sitzt und immerzu mit den Flügeln schlägt. Tut mir leid: Aber erledige Du das Zählen lieber für mich.
Als ich damals einfach so aus der Stadt verschwunden bin, hab ich Dir bestimmt Unannehmlichkeiten bereitet. Vielleicht warst Du sogar beleidigt, weil ich Dir auch nichts gesagt habe. Ich wollte es Dir schon so oft erklären, konnte es aber einfach nicht. Ich hab Dir enorm viele Briefe geschrieben, aber alle wieder zerrissen. Eigentlich ganz selbstverständlich: Was man sich selbst nicht erklären kann, kann man logischerweise anderen erst recht nicht erklären.
Glaub ich zumindest.
Ich konnte noch nie gut Briefe schreiben. Ich fange zum Beispiel von hinten an zu erzählen oder schreibe das genaue Gegenteil von dem, was ich sagen will. Außerdem bringt mich das Briefeschreiben nur noch mehr durcheinander. Und da mein Sinn für Humor unterentwickelt ist, führt es nur dazu, dass ich mit jedem Satz mit mir selbst unzufriedener werde.
Es kommt mir allerdings so vor, dass Leute, die gut Briefe schreiben können, gar keine zu schreiben brauchten. Weil sie nämlich ohne weiteres in ihrem eigenen Kontext leben könnten. Aber das ist natürlich nur meine ganz persönliche Meinung. Man kann vielleicht gar nicht in Kontexten leben.
Es ist jetzt schrecklich kalt, und meine Finger sind ganz steif. Als ob es gar nicht meine wären. Auch mein Hirn fühlt sich nicht wie mein eigenes an. Es schneit. Schnee wie fremdes Hirn. Schnee, der sich langsam, aber sicher anhäuft. Wie fremde Hirnmasse. (= Sätze ohne Sinn.)
Abgesehen von der Kälte geht’s mir ganz gut. Und wie stehts mit Dir? Meine Adresse teile ich Dir nicht mit, mach Dir bitte nichts draus. Damit Du mich recht verstehst: Ich will nichts vor Dir verheimlichen. Für mich ist das ein sehr delikates Problem. Ich habe nämlich das Gefühl, sobald ich Dir meine Adresse gebe, wird sich in mir eine Veränderung
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