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Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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habe natürlich eine gewisse Grundvorstellung davon, aber die dringt nicht ganz bis zum unmittelbaren Bewusstsein vor. In letzter Zeit beginnen sich solche Erlebnisse zu häufen. Wahrscheinlich, weil ich so lange alleine gelebt habe.
    Bis zur nächsten Stadt braucht man von hier aus anderthalb Stunden. Stadt ist zu viel gesagt: das Skelett eines winzigen Städtchens. Du kannst Dir das garantiert nicht vorstellen. Aber es ist jedenfalls eine Stadt. Man kann Kleidung, Lebensmittel und Benzin kaufen. Wenn man will, kann man sogar menschliche Gesichter sehen.
    Im Winter vereisen die Straßen, und es fahren kaum noch Autos. Der Boden ist feucht, und die Oberfläche friert zu Sorbet. Darauf fällt dann Schnee, und man kann nicht einmal mehr erkennen, wo die Straße überhaupt verläuft. Wie am Ende der Welt.
    Ich bin Anfang März hierher gekommen. Mit Ketten um die Reifen bin ich im Jeep durch diese Landschaft gefahren, wie auf dem Weg in die Verbannung nach Sibirien. Jetzt ist Mai, und der Schnee ist geschmolzen. Im April hörte man von den Bergen her ständig Lawinengetöse. Hast Du das schon mal gehört? Nach einer Lawine kommt vollkommene Stille. Absolute Stille, bei der man zu vergessen scheint, wo man sich befindet. Still, stiller, am stillsten.
    Weil ich die ganze Zeit in den Bergen eingeschlossen war, hab ich schon beinahe drei Monate nicht mehr mit einer Frau geschlafen. Das macht mir an sich gar nichts aus, aber mit der Zeit verliert man das Interesse an anderen Menschen überhaupt, und das ist nicht gerade, was ich möchte. Wenn es noch etwas wärmer geworden ist, stell ich mich auf die Hinterbeine und such mir irgendwo eine Frau. Das hab ich mir vorgenommen. Ich will mich ja nicht selbst loben, aber für mich ist es nicht so schwer, eine Frau zu finden. Wenn ich nur will – anscheinend leb ich sowieso in einer »Wenn-ich-nur-will-Welt« –, kann ich durchaus so etwas wie Sex-Appeal entwickeln. Deshalb ist das mit den Frauen verhältnismäßig leicht für mich. Das Problem ist, ich kann mich an mein Talent selbst nicht richtig gewöhnen. Zum Beispiel kann ich nicht sagen, bis zu welchem Punkt die Entwicklung der Sache mein eigenes Verdienst ist und ab wann mein Sex-Appeal ins Spiel kommt. Wo hört Laurence Olivier auf und wo fängt Othello an? – Das gleiche Problem. Deshalb kann ich nicht zwischendurch anfangen einzukassieren, sondern gebe immer alles restlos weg. Dadurch falle ich dann wieder vielen Leuten zur Last. Mein bisheriges Leben war sozusagen ein endloser Kreislauf immer desselben Prozesses.
    Zum Glück (und das ist wirklich ein Glück!) habe ich gerade nichts, was ich weggeben könnte. Ein herrliches Gefühl! Wenn überhaupt, dann höchstens mich selbst. Wäre gar nicht so schlecht, mich selbst wegzugeben. Na, dieser Satz ist mir jetzt aber etwas zu pathetisch geraten! Der Gedanke an sich ist kein bisschen pathetisch, aber schwarz auf weiß ist es zu viel des Guten.
    Mir ist nicht zu helfen!
    Wo war ich eigentlich?
    Ja genau, bei den Frauen.
    Jede Frau hat ihre eigene schmucke Schublade, voll gestopft mit lauter sinnlosem Krimskrams. Ich liebe diesen Kram! Jedes einzelne Stück davon nehme ich in die Hand, staube es ab und finde seinen Sinn. Ich glaube, genau darin liegt das Geheimnis meines Sex-Appeals. Aber wenn Du mich fragst, wozu das gut sein soll, muss ich passen. Mir bleibt weiter nichts übrig, als aufzuhören, ich zu sein.
    Deshalb denke ich jetzt an puren Sex. Wenn man sein Interesse rein auf Sex beschränkt, braucht man sich keine Gedanken mehr darüber zu machen, ob das pathetisch ist oder nicht.
    Genau wie Biertrinken am Schwarzen Meer.
    Ich hab mir noch mal durchgelesen, was ich bisher geschrieben habe. Es sind ein paar unklare Stellen drin, aber für meine Verhältnisse war ich ziemlich ernsthaft. Am ehesten bei den langweiligen Stellen.
    Aber man kann es drehen und wenden, wie man will, ein Brief an Dich ist es nicht. Eher einer an den Briefkasten. Trotzdem, mach mir bitte keine Vorwürfe deswegen. Bis zum nächsten Briefkasten braucht man nämlich von hier aus anderthalb Stunden.
    Von jetzt an wird es ein echter Brief an Dich.
    Ich habe zwei Bitten. Beide sind nicht sehr eilig, deshalb kannst Du sie erledigen, wenn Dir der Sinn danach steht. Du würdest mir einen großen Gefallen damit tun. Vor drei Monaten noch wäre ich vielleicht gar nicht in der Lage gewesen, Dich um irgendetwas zu bitten. Aber jetzt kann ich Dich um einen Gefallen bitten, und das ist schon ein

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