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Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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ja keinen Sinn. Ein Fahrzeug muss regelmäßig bewegt werden, wie Sie wissen, sonst lässt die Maschine nach.«
    »Eben«, sagte ich. Eine Geheimsache war die Krankheit des Alten demnach nicht. Ich nahm eine Zigarette aus dem Etui und sah sie mir an. Es war eine Zigarette ohne Filter und Markenaufdruck. Ich führte sie an die Nase; sie roch nach russischem Tabak. Ich schwankte eine Weile, ob ich sie rauchen sollte oder einstecken, tat sie dann aber wieder ins Etui. Auf dem Feuerzeug und dem Zigarettenetui war in der Mitte ein geschmackvolles Wappen eingraviert. Ein Schafwappen.
    Ein Schaf wappen?
    Jede weitere Überlegung würde nur im Sande verlaufen; ich schüttelte den Kopf und schloss die Augen. Seit jenem Nachmittag, als ich zum ersten Mal das Ohrenfoto gesehen hatte, schien mir vieles einfach zu entgleiten.
    »Wie lange dauert es, bis wir da sind?«, fragte ich.
    »Dreißig bis vierzig Minuten, je nach Verkehr.«
    »Tja, wären Sie so gut, die Klimaanlage ein bisschen runterzudrehen? Ich verlängere dann meinen Mittagsschlaf.«
    »Sehr wohl, mein Herr.«
    Der Fahrer regulierte die Klimaanlage und betätigte dann irgendeinen Knopf am Armaturenbrett. Zwischen Fahrersitz und Fond schob sich eine dicke Trennscheibe hoch. Abgesehen von der Bachsonate herrschte im Fond so gut wie perfekte Stille. Aber mich konnte nun fast nichts mehr in Erstaunen versetzen. Ich drückte mein Gesicht ins Polster des Rücksitzes und schlief ein.
    Im Schlaf sah ich eine Kuh. Eine ziemlich schmucke Kuh, der man gleichwohl ansah, dass sie sich hatte abplacken müssen. Wir gingen auf einer breiten Brücke aneinander vorbei. Es war ein angenehmer Frühlingsmittag. Die Kuh trug in einer Hand einen alten Ventilator und fragte mich, ob ich ihn ihr nicht billig abkaufen wolle. Ich hab kein Geld, sagte ich. Ich hatte wirklich keins.
    Ich tausch ihn auch gegen eine Zange, sagte die Kuh. Kein schlechtes Geschäft. Ich ging mit der Kuh nach Hause und suchte verzweifelt nach einer Zange, fand aber keine.
    »Komisch«, sagte ich. »Gestern war sie wirklich noch da.«
    Ich hatte gerade einen Stuhl geholt, um auf dem Schrank nachzusehen, als der Fahrer mich mit einem Klaps auf die Schulter weckte.
    »Wir sind da«, sagte er lakonisch.
    Durch die offene Tür schien mir die frühabendliche Sommersonne ins Gesicht. Tausende von Zikaden zirpten, als ob sie eine Uhr aufzögen. Es roch nach Erde.
    Ich stieg aus, streckte mich und tat einen tiefen Atemzug. Und dann betete ich, dass der Traum keiner von der symbolischen Sorte war.

6. BANDWURMUNIVERSUM HEISST WAS?
    Es gibt symbolische Träume, und es gibt die von solchen Träumen symbolisierte Realität. Und, umgekehrt, symbolische Realitäten und von solchen Realitäten symbolisierte Träume. Symbole sind sozusagen Ehrenbürgermeister des Bandwurmuniversums. Im Bandwurmuniversum nimmt es nicht groß wunder, wenn eine Kuh nach einer Zange verlangt. Sie wird sie schon irgendwann bekommen. Das hat mit mir nichts zu tun.
    Wenn allerdings die Kuh versucht, über mich zu ihrer Zange zu kommen, dann sieht die Sache völlig anders aus. Dann werde ich in ein Universum gezogen, wo man gänzlich anders denkt. Und dort nehmen, das ist das Schlimmste, die Geschichten kein Ende. Ich frage die Kuh: »Warum willst du eine Zange haben?« »Weil ich wahnsinnigen Hunger habe«, antwortet die Kuh. Ich frage: »Warum brauchst du denn eine Zange, wenn du Hunger hast?« »Die muss ich an die Zweige des Pfirsichbaums binden«, antwortet die Kuh. Ich frage: »Warum denn an den Pfirsichbaum?« »Ich hab doch den Ventilator weggegeben«, antwortet die Kuh. Und so weiter, ohne Ende. Und über kurz oder lang fange ich an, die Kuh zu hassen, und die Kuh fängt an, mich zu hassen. Das ist das Bandwurmuniversum. Um daraus zu entkommen, gibt es nur ein Mittel: Man muss einen anderen symbolischen Traum träumen.
    Als mich an jenem Nachmittag im September des Jahres 1978 das riesige, vierrädrige Fahrzeug entführte, befand ich mich schon mitten in so einem Bandwurmuniversum. Mein Gebet war, mit anderen Worten, nicht erhört worden.
    Ich schaute mich um und musste unwillkürlich seufzen. Die Gegend war einen Seufzer wert.
    Der Wagen stand mitten auf einem kleinen Hügel. Nach hinten verlängerte sich in unnatürlichen Mäandern bis zum Tor in der Ferne der Kiesweg, den der Wagen offenbar hochgefahren war. Beiderseits des Weges reihten sich in immer gleichen Abständen Zypressen und Quecksilberleuchten. Bis zum Tor mochten es, wenn man

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