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Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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die Schafe. Aber die Wiese war so groß und die Schafe wie Ausflügler beim Picknick so weit verstreut, dass ich, je weiter in den Hintergrund ich ging, nicht mehr genau zu sagen wusste, ob es sich nun um Schafe oder nur um weiße Punkte handelte, dann, ob die weißen Punkte nun weiße Punkte waren oder ob mich meine Augen täuschten, und zuletzt, ob mich nun meine Augen täuschten oder ob ich auf das reine Nichts sah. Gezwungenermaßen beschränkte ich mich darauf, mit der Spitze des Kugelschreibers nur die klar als Schafe auszumachenden Schafe zu zählen. Das ergab die Zahl zweiunddreißig. Zweiunddreißig Schafe. Eine absolut gewöhnliche Landschaftsaufnahme. Nichts Künstliches, nichts Auffälliges.
    Und doch war da etwas. Es roch nach Trouble. Dieses Gefühl hatte ich schon gehabt, als ich das Foto zum ersten Mal sah, und es hatte mich in den letzten drei Monaten nicht wieder verlassen.
    Ich legte mich der Länge nach aufs Sofa, hielt das Foto hoch über den Kopf und zählte noch einmal nach. Dreiunddreißig Schafe.
    Dreiunddreißig?
    Ich schloss die Augen, schüttelte den Kopf und dachte an nichts. Scheißegal. Soll passieren, was passiert. Und wenn’s passiert, passiert’s eben.
    Ich blieb so liegen und versuchte mich noch einmal im Schafezählen. Dann fiel ich in einen tiefen Zweiwhiskeyamfrühennachmittagschlaf. Bevor ich einschlief, dachte ich kurz an die Ohren meiner neuen Freundin.

5. DER WAGEN UND SEIN FAHRER (I)
    Der Wagen kam wie angekündigt um vier. Präzise wie eine Kuckucksuhr. Das Mädchen rüttelte mich aus tiefem Schlaf. In der Toilette wusch ich mir das Gesicht, aber die Schläfrigkeit wollte nicht vergehen. Im Aufzug musste ich bis unten dreimal gähnen. Ein Gähnen jedes Mal wie eine Klage, und Kläger und Beklagter war stets ich.
    Über der Straße vor dem Eingang zum Gebäude schwebte der Wagen, riesig wie ein U-Boot. Unter der Haube hätte sich eine bescheidene Familie einrichten können, so groß war er. Die Scheiben waren dunkelblau getönt, sodass man nicht ins Innere sehen konnte. Das Chassis war von einem wirklich prachtvollen schwarzen Lack, und von den Stoßstangen bis zu den Radkappen fand sich auch nicht das kleinste Fleckchen.
    Neben dem Wagen stand in tadellos weißem Hemd und mit orangefarbener Krawatte ein älterer Fahrer in Positur. Ein richtiger Chauffeur. Als er mich kommen sah, öffnete er wortlos den Schlag und ließ, nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass ich richtig saß, die Tür wieder zufallen. Dann nahm er selbst auf dem Fahrersitz Platz und zog die Tür zu. Das Ganze machte so wenig Lärm wie zwei Blatt neue Spielkarten. Verglichen mit meinem von einem Freund erstandenen, über fünfzehn Jahre alten VW -Käfer war es so still, als ob ich mit Stöpseln in den Ohren auf dem Grunde eines Sees säße.
    Auch das Wageninnere war nicht von schlechten Eltern. Wie sich das eben für das Zubehör einer Luxuslimousine gehört: nicht eben Boten des guten Geschmacks, aber ohne Frage von auserlesener Qualität. Im geräumigen Fond war zwischen den Sitzen ein modisch geformtes Tastentelefon eingelassen, daneben reihte sich ein silbernes Raucherset: Feuerzeug, Aschenbecher, Zigarettenetui. Im Rücken des Fahrersitzes waren ein Klapptisch und ein Unterschränkchen installiert, sodass man schreiben oder eine kleine Mahlzeit einnehmen konnte. Die Klimaanlage blies still und natürlich, und der Teppich auf dem Boden war weich.
    Bevor ich es merkte, fuhr der Wagen schon. Mir war, als glitte ich in einer Blechschüssel über einen Quecksilbersee. Ich versuchte mir vorzustellen, was der Wagen wohl gekostet haben könnte, kam aber zu keinem Resultat. Das überstieg meine Fantasie bei weitem.
    »Wünschen Sie etwas Musik?«, sagte der Fahrer.
    »Wenn’s geht, was Ruhiges«, sagte ich.
    »Sehr wohl.«
    Der Fahrer tastete nach den Kassetten unter seinem Sitz, suchte eine aus und betätigte einen Schalter am Armaturenbrett. Ein ruhiges Instrumentalstück, eine Cello-Sonate, tönte aus irgendwo sinnreich versteckten Lautsprechern. Sauberes Stück, sauberer Klang.
    »Nehmen Sie immer diesen Wagen, um Gäste abzuholen?«, fragte ich versuchsweise.
    »Ja«, antwortete der Fahrer vorsichtig. »In der letzten Zeit immer.«
    »Wahnsinn«, sagte ich.
    »Das war früher der persönliche Wagen des Chefs«, sagte der Fahrer nach einer Weile. Er schien weit leutseliger, als er aussah. »Aber seit dem Frühjahr geht er nicht mehr aus, er fühlt sich nicht gut, und den Wagen stehen zu lassen hat

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