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Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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zur falschen Tür hineingegangen bin und jetzt nicht zurück kann. Wie auch immer, hineingegangen ist hineingegangen, und mir bleibt nichts übrig, als das Beste draus zu machen. Ich kann doch nicht ewig alles auf Pump kaufen!
    So liegen die Dinge.
    Wie ich am Anfang schon sagte (hab ich doch, oder?), ist es für mich immer ein bisschen gefährlich, an Dich zu denken. Vielleicht, weil Du mich an die Zeit erinnerst, als mein Leben noch verhältnismäßig in Ordnung war.
    Ratte
    P. S.: Ich lege einen meiner Romane bei. Für mich hat er keine Bedeutung mehr, also mach damit, was Du willst. Ich schicke diesen Brief per Eilpost, sodass er am vierundzwanzigsten Dezember bei Dir ankommt. Hoffentlich ist er pünktlich.
    Jedenfalls herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!
    Und: »White Christmas«!
    * * *
    Rattes Brief steckte ganz zerknüllt am vorvorletzten Tag des Jahres, dem neunundzwanzigsten Dezember, in meinem Briefkasten. Zwei Nachsendezettel klebten auf dem Umschlag, weil er meine alte Adresse benutzt hatte. Es gab ja keine Möglichkeit für mich, ihn zu benachrichtigen.
    Nachdem ich die vier blassgrünen, eng beschriebenen Seiten dreimal gelesen hatte, nahm ich mir den Umschlag vor und untersuchte den halb verblassten Poststempel. Der Brief war in einer mir völlig unbekannten Stadt abgestempelt worden. Ich nahm einen Atlas aus dem Bücherregal und suchte. Rattes Brief klang irgendwie nach Nordhonshu¯, und wirklich, es war eine Stadt in der Präfektur Aomori. Eine Kleinstadt, ungefähr eine Zugstunde von Aomori-Stadt entfernt. Nach dem Fahrplan zu urteilen, hielten dort täglich fünf Züge. Morgens zwei, mittags einer und abends zwei. Ich war schon öfter im Dezember in Aomori gewesen. Furchtbar kalt ist es da. Selbst die Ampeln frieren ein.
    Ich zeigte den Brief meiner Frau. »Armer Kerl!«, sagte sie nur. Sie wollte wohl sagen: »Ihr armen Kerle!« Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr.
    Die zweihundert Manuskriptseiten Roman ließ ich ohne auch nur die Überschrift zu lesen in einer Schreibtischschublade verschwinden. Warum, weiß ich nicht, aber ich hatte einfach keine Lust, sie zu lesen. Mir reichte schon der Brief.
    Dann setzte ich mich auf den Stuhl vor dem Ofen und rauchte drei Zigaretten.
    * * *
    Der nächste Brief von Ratte kam im Mai des folgenden Jahres.

2. DER ZWEITE BRIEF VON RATTE
    (Poststempel vom ?ten Mai 1978)
    Mir scheint, ich hab im letzten Brief zu viel geschwafelt. Von was, hab ich allerdings völlig vergessen.
    Ich bin wieder umgezogen. Diesmal in eine ganz andere Gegend. Hier ist es sehr still. Vielleicht etwas zu still für mich.
    Aber in gewissem Sinne ist hier ein Schlusspunkt für mich. Mir ist, als hätte ich hierher kommen müssen und als wäre ich dafür auch gegen sämtliche Ströme geschwommen. Selbst kann ich das jedoch nicht beurteilen.
    Das sind ja furchtbare Sätze. So undeutlich, dass Du wahrscheinlich keine Ahnung hast, wovon ich eigentlich rede. Oder aber Du denkst vielleicht, ich mäße meinem eigenen Schicksal zu viel Bedeutung bei. Wenn Du so denkst, ist das natürlich voll und ganz meine Schuld.
    Ich möchte Dir lediglich die Tatsache begreiflich machen, dass meine Sätze derart zerfallen, je mehr ich versuche, Dir meinen jetzigen Zustand genau zu erklären. Aber ich selbst bin okay – so wie noch nie.
    Lass mich konkreter werden.
    Wie ich eben schon bemerkte, ist es in dieser Gegend schrecklich still. Weil es sonst nichts zu tun gibt, lese ich den ganzen Tag Bücher (hier gibt es genug für mindestens zehn Jahre) und höre Musikprogramme auf UKW oder Schallplatten (davon gibt es auch eine ganze Menge hier). Zum ersten Mal seit zehn Jahren hab ich wieder so viel Musik auf einmal gehört. Man kann sich nur darüber wundern, dass die Rolling Stones oder die Beach Boys immer noch aktiv sind. Die Zeit ist und bleibt eine gewaltige zusammenhängende Masse! Jeder schneidet sich wie selbstverständlich ein passendes Stück heraus, und so täuschen wir uns beinahe darüber hinweg, dass sie trotzdem eine zusammenhängende Masse bleibt.
    Hier gibt es keine passenden Zeitstücke. Hier gibt es noch nicht einmal Leute, die je nach Größe des eigenen Stücks die der anderen bewundern oder verachten. Wie ein kristallklarer Strom, so fließt die Zeit dahin. Manchmal ist mir so, als ob ich mich in kleinste Bestandteile aufgelöst hätte. Wenn mein Blick zum Beispiel auf ein Auto fällt, vergehen erst einige Sekunden, bis mir bewusst wird, dass es sich um ein Auto handelt. Ich

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