Wilde Schafsjagd
die Geschwindigkeit der Erdumdrehung nach. Mit welcher Stundengeschwindigkeit mochte sich wohl die Straße hier durchs Weltall drehen? Ich rechnete im Kopf die ungefähren Zahlen aus, wusste dann aber doch nicht, ob sie nun schneller war oder langsamer als die Kreiselscooter auf dem Jahrmarkt. Es gibt eine Menge Dinge, die wir nicht wissen. Wir glauben nur, wir wüssten in etwa Bescheid. Wenn ein paar Außerirdische auf mich zukämen und fragten, Du, sag mal, mit wie viel Kilometern pro Stunde dreht sich die Erde am Äquator? – ich wäre aufgeschmissen. Vermutlich könnte ich nicht mal erklären, warum nach Dienstag Mittwoch kommt. Die Außerirdischen würden mich auslachen – oder? Ich habe dreimal Die Brüder Karamasow gelesen und dreimal den Stillen Don . Einmal sogar Die deutsche Ideologie . π kann ich bis auf sechzehn Stellen hinter dem Komma auswendig. Aber sie würden mich auslachen – oder? Wahrscheinlich. Tot lachen würden sie sich.
»Wie wäre es mit etwas Musik?«, fragte der Fahrer.
»Gerne«, sagte ich.
Im Wagen ertönte eine Ballade von Chopin. Eine Atmosphäre wie im Warteraum eines Hochzeitspalastes.
»Sagen Sie mal«, fragte ich den Fahrer, »kennen Sie den Zahlenwert für das Verhältnis Kreisdurchmesser zu Umfang?«
»π meinen Sie? 3,14?«
»Genau. Aber wie viele Stellen hinter dem Komma?«
»Zweiunddreißig«, sagte der Fahrer unbekümmert. »Danach allerdings …«
» Zweiunddreißig? «
»Ja. Ich hab da so eine Methode. Weshalb?«
»Ach, nur so«, sagte ich enttäuscht, »nur so.«
Danach hörten wir eine Weile Chopin, und der Wagen rückte knappe zehn Meter vor. Das Ungeheuer von Auto, in dem wir saßen, wurde von den Fahrern der Autos um uns herum und den Fahrgästen eines Busses ständig gemustert. Kein schönes Gefühl, gemustert zu werden, auch wenn man weiß, dass die getönten Scheiben fremde Blicke gar nicht zulassen.
»Ganz schöner Verkehr«, sagte ich.
»Ja«, sagte der Fahrer. »Aber auch der dickste Stau löst sich irgendwann auf – keine Nacht hat vierundzwanzig Stunden.«
»Das schon«, sagte ich. »Aber regen Sie sich niemals auf?«
»Das kommt vor, sicher. Ich ärgere mich, manchmal rege ich mich auch auf. Vor allem, wenn ich es eilig habe. Aber ich nehme das alles als Teil der uns auferlegten Prüfung. Sich aufregen heißt eine Niederlage erleiden.«
»Klingt ziemlich religiös, Ihre Auslegung des täglichen Staus.«
»Ich bin Christ. Ich gehe nicht zur Kirche, aber ich bin und war immer Christ.«
»Christ?« Ich staunte. »Christ sein und gleichzeitig Fahrer einer eminenten Persönlichkeit der Rechten – ist das kein Widerspruch?«
»Der Chef ist ein nobler Herr. Von allen, die ich bisher getroffen habe, der nobelste. Gleich nach dem lieben Gott.«
»Sie haben Gott getroffen?«
»Sicher. Ich rufe ihn jeden Abend an.«
»Aber«, sagte ich und wusste ein paar Sekunden nicht weiter. In meinem Hirn ging es wieder drunter und drüber. »Aber sagen Sie, wenn jeder bei Gott anruft, ist dann nicht immer die Leitung zu, ist dann nicht immer besetzt? So wie mittags bei der Auskunft?«
»Da braucht man sich keine Sorgen zu machen. Der liebe Gott existiert gewissermaßen simultan. Wenn ihn eine Million Menschen anrufen, dann spricht Gott gleichzeitig mit einer Million Menschen.«
»Ich kenne mich zwar nicht so aus, aber sind Sie sicher, dass das die orthodoxe Auffassung ist? Ich meine, wie soll ich sagen, theologisch gesehen?«
»Ich bin ein Radikaler. Deshalb komme ich auch mit der Kirche nicht zurecht.«
»Verstehe«, sagte ich.
Der Wagen kam fünfzig Meter voran. Ich steckte mir eine Zigarette zwischen die Lippen. Erst als ich sie anzünden wollte, merkte ich, dass ich die ganze Zeit über ein Feuerzeug in der Hand gehabt hatte – das Dupont-Feuerzeug mit dem Schafwappen, das der Mann mir gezeigt hatte. Ich hatte es unbewusst mitgenommen. Das silberne Feuerzeug lag mir so vertraut in der Hand, als ob es schon mein ganzes Leben dort gelegen hätte. Ein einwandfreies Feuerzeug. Es hatte ein ideales Gewicht, und es fühlte sich gut an. Ich überlegte ein bisschen und beschloss dann, es zu behalten. Ein Feuerzeug oder zwei konnte jeder verschmerzen. Ich klappte es ein paar Mal auf und zu, zündete mir dann die Zigarette an und steckte es ein. Zum Ausgleich warf ich mein BIC in die Seitenablage der Tür.
»Der Chef hat sie mir vor ein paar Jahren gegeben«, sagte der Fahrer plötzlich.
»Was hat er Ihnen gegeben?«
»Die Telefonnummer Gottes.«
Ich
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