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Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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riesiger Palast, den man abreißt, um an seine Stelle Apartmenthäuser zu setzen. Eine homogene, berechenbare Welt. Eine Welt ohne Willen. Sie halten das vielleicht für nur recht. Ich meine die Zerteilung. Aber denken Sie einmal nach. Ist es wirklich richtig, das ganze Land einzuebnen, Berge, Strände, Seen, und ein gleichförmiges Apartmenthaus neben das andere zu setzen?«
    »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ich weiß nicht, ob diese Frage an sich ihre Berechtigung hat.«
    »Sie sind ein kluger Mensch«, sagte der Mann, faltete die Hände und ließ sie in den Schoß sinken. Die Finger schlugen einen langsamen Takt. »Die Apartmenthäuser sind natürlich nur ein Vergleich. Um mich etwas genauer auszudrücken: Die Organisation besteht aus zwei Teilen; aus einem, der nach vorne rückt, und aus einem, der nach vorne treibt. Es gibt noch andere, die die verschiedensten Funktionen erfüllen, aber grob gesprochen besteht unsere Organisation aus diesen beiden Teilen. Alle anderen sind so gut wie bedeutungslos. Der Teil, der vorrückt, heißt ›Wille‹, und der Teil, der nach vorne treibt, heißt ›Profit‹. Wenn der Chef in schiefes Licht gesetzt wird, dann immer nur wegen des Profits. Und wenn man sich nach seinem Tod zusammenschart und nach Teilung schreit, dann wird es wieder nur um diesen Profit gehen. Den ›Willen‹ möchte niemand haben. Weil niemand ihn versteht. Das ist, was ich mit Teilung meine. Der Wille ist nicht teilbar. Er muss zu hundert Prozent übernommen werden, oder er erlischt zu hundert Prozent.«
    Die Finger im Schoß des Mannes schlugen weiter ihren langsamen Takt. Alles andere war wie zu Beginn des Gesprächs. Die Augen kalt, der Blick ohne Fokus, das Gesicht feinsinnig, aber ausdruckslos, im immer gleichen Winkel mir zugewandt.
    »›Wille‹, was heißt das?«, fragte ich.
    »Kontrolle des Raumes, Kontrolle der Zeit, Kontrolle der Möglichkeiten.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Niemand versteht das. Außer dem Chef, der es gewissermaßen instinktiv begreift. Extrem ausgedrückt handelt es sich um die Negation der Selbsterkenntnis. Hier realisiert sich zum ersten Mal die perfekte Revolution. Eine Revolution, um es mit Worten zu sagen, die Sie verstehen, bei der die Arbeit das Kapital einschließt und das Kapital die Arbeit.«
    »Das klingt nach Illusion.«
    »Im Gegenteil!«, stieß der Mann hervor. »Gerade Erkenntnis ist Illusion. – Sicher, was ich sage, sind nichts als Worte. Und ich werde, wie viele ich auch aneinander reihe, Ihnen die Form des Willens, der den Chef beherrscht, nicht erklären können. Meine Erklärung der Beziehung zwischen mir und diesem Willen muss auf einer völlig anderen Ebene, der sprachlichen, stattfinden. Die Negation der Erkenntnis hat aber auch mit der Negation der Sprache zu tun. Wenn die individuelle Erkenntnis und die evolutionäre Kontinuität, jene beiden Pfeiler des westlichen Humanismus, ihren Sinn verlieren, verliert auch die Sprache ihren Sinn. Existenz ist nicht qua Individuum, sondern qua Chaos. Ihre Existenz ist keine für sich, es ist lediglich Chaos. Mein Chaos ist auch das Ihre, und Ihr Chaos ist meines. Existenz ist Kommunikation, und Kommunikation ist Existenz.«
    Im Zimmer wurde es plötzlich fürchterlich kalt, und mir war, als hätte man neben mir ein schönes warmes Bett zurechtgemacht. Irgendjemand lud mich zu Bett. Das war natürlich eine Halluzination. Wir hatten September, und draußen zirpten noch zahllose Zikaden.
    »Das, was ihr Ende der Sechziger herbeigeführt habt, vielmehr herbeiführen wolltet, eine Erweiterung des Bewusstseins, wurzelte im Individuum und schlug deshalb erbärmlich fehl. Das heißt, wer lediglich das Bewusstsein erweitert, ohne die individuelle Masse zu verändern, kann am Ende nur mit Verzweiflung rechnen. Das ist, was ich mit Mittelmäßigkeit meine. Aber lassen wir das. Sie werden es nicht verstehen, auch wenn ich es tausendmal erklärte. Ich suche auch gar nicht Ihr Verständnis. – Kommen wir zu dem Bild, das ich Ihnen eben gab«, sagte der Mann. »Es handelt sich um eine Kopie aus den medizinischen Unterlagen des amerikanischen Militärkrankenhauses. Es trägt das Datum des 27. Juli 1946. Der Chef hat es auf Verlangen seines Arztes mit eigener Hand gezeichnet – eine der Prozeduren zur genaueren Erfassung der Halluzinationen. Tatsächlich trat das Schaf, sagen die militärmedizinischen Unterlagen, in den Halluzinationen des Chefs mit hoher Frequenz auf. In, um es in Zahlen auszudrücken, achtzig

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