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Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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leeren Flaschen ab und erkundigte sich, ob ich noch eine wolle. Ich nickte und zählte schweigend weiter. Dass ich ein Bündel Geldscheine zählte, schien ihn nicht im Geringsten zu interessieren. Als das neue Bier kam, hatte ich bis 150 gezählt, das Geld wieder in den Umschlag geschoben und den Umschlag in der Gesäßtasche verstaut. Ich aß das neue Tellerchen Erdnüsse. Als ich damit fertig war, überlegte ich, weshalb ich so viele Erdnüsse essen konnte. Die Antwort lag auf der Hand. Ich hatte Hunger. Den ganzen Tag über hatte ich nur ein Stück Obstkuchen gegessen.
    Ich rief den Kellner und ließ mir die Speisekarte zeigen. Omelettes hatten sie zwar nicht, aber Sandwiches. Ich bestellte ein Käse-Gurken-Sandwich. Als Beilagen gebe es Kartoffelchips und Pickles. Ich stornierte die Chips und nahm dafür die doppelte Menge Pickles. Dann fragte ich, ob sie vielleicht Nagelschere und -feile hätten. Sie hatten natürlich. Hotelbars haben wirklich alles Mögliche. Ich habe mir in einer Hotelbar auch schon einmal ein französisch-japanisches Wörterbuch geliehen.
    Ich trank in Ruhe mein Bier, schaute mir in Ruhe das nächtliche Tokyo an, schnitt mir über dem Aschenbecher in Ruhe die Nägel, schaute noch einmal auf die Stadt und feilte. So wurde der Abend zur Nacht. In der Großstadt Zeit totschlagen, in dieser Disziplin stehe ich kurz vor der Meisterschaft.
    Aus den Deckenlautsprechern tönte mein Name. Zuerst hörte er sich gar nicht an wie mein Name. Erst ein paar Sekunden nach der Durchsage nahm der ausgerufene Name allmählich die Klangcharakteristika meines Namens an, um sich schließlich in meinem Kopf zu meinem echten, wirklichen Namen zu formen.
    Ich signalisierte mit erhobener Hand, und der Kellner brachte ein drahtloses Telefon an den Tisch.
    »Es hat sich eine kleine Änderung ergeben«, sagte eine Stimme, die ich kannte. »Der Zustand des Chefs hat sich rapide verschlechtert. Es ist nicht mehr allzu viel Zeit. Ihre Frist wird verkürzt.«
    »Auf?«
    »Auf einen Monat. Länger kann ich nicht warten. Wenn Sie das Schaf nicht innerhalb eines Monats finden, sind Sie am Ende. Und Sie können nirgendwohin zurück.«
    Ein Monat. Ich überlegte. Aber ich hatte keine Zeitvorstellung mehr, in meinem Kopf ging es drunter und drüber. Ein Monat, zwei Monate, was machte das schon für einen Unterschied. Außerdem: Wer wusste schon, wie lange es im Allgemeinen dauerte, ein einzelnes Schaf zu finden? Ohne Richtzeiten war da nichts zu machen.
    »Woher wussten Sie eigentlich, dass ich hier bin?«, fragte ich.
    »Wir wissen fast alles«, sagte der Mann.
    »Nur nicht, wo das Schaf ist«, sagte ich.
    »Richtig«, sagte der Mann. »Aber treten Sie lieber in Aktion. Sie vergeuden zu viel Zeit. Denken Sie gut darüber nach, in welcher Lage Sie sich befinden. Sie haben sich schließlich selbst hineingebracht.«
    Das traf ohne Frage zu. Mit dem obersten Zehntausender aus dem Briefumschlag beglich ich die Rechnung und fuhr mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss. Draußen liefen nach wie vor reale Menschen auf realen zwei Beinen umher. Zu erleichtern vermochte mich das allerdings kaum noch.

5. 1:5000
    Zu Hause lagen im Briefkasten die Abendzeitung und drei Briefe. Einer war von meiner Bank und enthielt die Auszüge, bei dem anderen handelte es sich um eine Einladung zu einer fraglos langweiligen Party, und der dritte kam von einem Gebrauchtwagenzentrum. Der Text versprach ein glücklicheres Leben, wenn man seinen Wagen gegen einen der nächsthöheren Klasse tauschte. Fürsorge, die ich nicht brauchte. Ich legte die Briefe übereinander, riss sie in der Mitte entzwei und warf sie in den Papierkorb.
    Ich holte Saft aus dem Kühlschrank, schenkte mir ein Glas ein, setzte mich an den Küchentisch und trank. Auf dem Tisch lag ein Zettel von meiner Freundin: Bin essen; bin vor halb zehn wieder zurück. Die Digitaluhr auf dem Tisch zeigte an, es sei zurzeit halb zehn. Ich sah auf die Uhr, bis die Ziffern auf 31 umsprangen, ein wenig später dann auf 32.
    Schließlich hatte ich genug davon, auf die Uhr zu sehen, zog mich aus, ging ins Bad, duschte mich und wusch mir die Haare. Im Bad standen vier verschiedene Shampoos und drei Arten Spülbalsam. Jedes Mal brachte meine Freundin etwas Neues aus dem Supermarkt mit. Irgendetwas im Badezimmer vermehrte sich immer. Ich zählte nach. Ich hatte vier verschiedene Rasiercremes und fünf Tuben Zahnpasta. Alles in allem und zusammen eine enorme Zahl. Ich verließ das Bad und zog mich um: kurze Sporthose

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