Wilde Schafsjagd
stieß einen leisen, kaum hörbaren Seufzer aus. War ich etwa verrückt? Oder war der Fahrer verrückt?
»Nur Ihnen, ganz vertraulich?«
»Ja, er hat sie nur mir gegeben, ganz vertraulich. Ein nobler Herr. Soll ich sie Ihnen sagen?«
»Ich bitte darum«, sagte ich.
»Weil Sie es sind. Sie lautet Tokyo 945 …«
»Moment, Moment«, sagte ich und kramte Notizblock und Kugelschreiber hervor; dann notierte ich die Nummer. »Dürfen Sie mir die eigentlich geben?«
»Das geht schon in Ordnung. Jedem verrate ich sie nicht, aber Sie scheinen ein guter Mensch zu sein.«
»Herzlichen Dank«, sagte ich. »Nur, ich weiß gar nicht, was ich mit dem lieben Gott besprechen soll. Ich bin nicht einmal Christ.«
»Das macht nichts. Erzählen Sie ihm nur aufrichtig, was Sie denken, was Ihnen auf der Seele liegt. Sie können ihm alles erzählen, auch die kleinsten und unwichtigsten Dinge. Der liebe Gott fühlt sich nicht gelangweilt, und er lacht Sie auch nicht aus.«
»Danke schön. Ich werde ihn mal anrufen.«
»Das ist recht«, sagte der Fahrer.
Der Verkehr floss nun, und langsam kamen die Hochhäuser von Shinjuku in Sicht. Bis wir ankamen, sprachen wir kein Wort mehr.
4. SOMMERENDE UND HERBSTANFANG
Als der Wagen in Shinjuku ankam, lag über der Stadt schon helles Abendviolett. Zwischen den Hochhäusern wehte ein frischer, das Ende des Sommers ankündigender Wind. Er spielte mit den Röcken der Mädchen, die von der Arbeit nach Hause gingen. Die Absätze ihrer Sandalen klapperten über die Platten der Fußgängerwege.
Ich ging in eines der Hochhaushotels, fuhr in den obersten Stock, betrat die geräumige Bar und bestellte mir ein Heineken. Es dauerte zehn Minuten, bis das Bier kam. Bis dahin saß ich mit geschlossenen Augen in meinem Sessel, den Kopf in die Hände, die Ellbogen auf die Lehnen gestützt. Ich konnte an nichts denken. Die Augen geschlossen, rauschte es in meinem Kopf, als ob ein paar hundert Zwerge dabei wären, ihn auszufegen. Sie fegten und fegten. Keiner kam auf die Idee zusammenzukehren.
Als das Bier gebracht wurde, trank ich es in zwei Zügen aus. Dann aß ich sämtliche Erdnüsse, die auf einem Tellerchen zum Bier serviert worden waren. Die Kehrgeräusche verschwanden. Ich ging in die Telefonzelle neben der Kasse und rief bei meiner Freundin mit den tollen Ohren an. Sie war weder bei sich noch bei mir. Wahrscheinlich war sie irgendwo zum Essen. Zu Hause aß sie unter keinen Umständen.
Danach wählte ich die neue Wohnung meiner Ex-Frau an, überlegte es mir aber nach zweimaligem Klingeln anders und legte wieder auf. Etwas Bestimmtes hatte ich ja nicht zu sagen, und ich wollte mir nicht vorwerfen lassen, gefühllos zu sein.
Sonst hatte ich niemanden zum Anrufen. Mitten in einer Stadt, in der zehn Millionen Menschen herumwimmelten, gab es nur zwei Personen, die ich anrufen konnte. Und eine davon war auch noch meine geschiedene Frau. Ich gab auf, steckte meine zehn Yen wieder ein und verließ die Telefonzelle. Und bestellte beim Kellner, der gerade vorbeiging, zwei Flaschen Heineken.
Auf diese Weise ging der Tag zu Ende. Ein so sinnloser Tag, wie ich ihn, schien mir, seit meiner Geburt noch nicht erlebt hatte. Ein letzter Tag des Sommers sollte eigentlich anders schmecken. Aber jetzt war dieser eine Tag vorbei, herumgestoßen und hin und her gezerrt. Draußen breitete sich die erste kühle Dunkelheit des Herbstes aus. Unendlich weit erstreckten sich die kleinen gelben Lichter der Stadt. Von oben sah es wirklich so aus, als ob sie nur darauf warteten, zertreten zu werden.
Mein Bier kam. Nach der ersten Flasche leerte ich die beiden Erdnusstellerchen in die hohle Hand und aß die Erdnüsse der Reihe nach auf. Am Nebentisch unterhielten sich vier Frauen mittleren Alters, die vom Schwimmunterricht kamen, über Gott und die Welt und tranken dazu farbenfrohe tropische Cocktails. Einer der Kellner gähnte, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, aber sonst in strammer Haltung. Ein anderer erklärte einem amerikanischen Ehepaar mittleren Alters die Speisekarte. Ich aß die Erdnüsse auf und leerte mein drittes Bier. Damit hatte ich alles, was zu tun war, erledigt.
Ich zog den Briefumschlag aus der Gesäßtasche meiner Levis, riss ihn auf und zählte das Bündel Zehntausend-Yen-Scheine. Die von einer Banderole zusammengehaltenen neuen Scheine sahen eher wie Spielkarten denn wie Geldscheine aus. Als ich halb durch war mit Zählen, schmerzten mir die Hände. Bei 96 kam ein älterer Kellner, räumte die
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