Wilde Schafsjagd
Schaf zu suchen, haben Sie damals das Landwirtschaftsministerium verlassen, nicht?«
»Ach, Beamte sind Schwachköpfe! Sie hatten nicht das geringste Gespür für die wahren Verhältnisse. Wahrscheinlich werden sie die gewaltige Bedeutung, die dieses Schaf hat, nie begreifen!«
Es klopfte an der Tür, und eine Frauenstimme sagte: »Ich bringe Ihnen Ihr Essen.«
»Stell es hin und verschwinde!«, brüllte der Schafprofessor.
Man hörte, wie ein Tablett auf dem Boden abgestellt wurde, dann Schritte, die sich entfernten. Meine Freundin öffnete die Tür und trug das Essen zum Schreibtisch. Auf dem Tablett waren Suppe mit Croûtons, Salat, Brötchen und Fleischklößchen für den Schafprofessor sowie zwei Tassen Kaffee für uns.
»Habt ihr schon gegessen?«, fragte der Schafprofessor.
Wir bejahten.
»Was denn?«
»Kalbsschmorbraten in Weinsoße«, sagte ich.
»Garnelen vom Grill«, sagte sie.
»Hmm«, brummte der Schafprofessor. Er begann, die Suppe zu essen, und zerbiss dabei krachend die Croûtons. »Entschuldigt, dass ich beim Reden esse, aber ich habe Hunger.«
»Bitte, bitte«, sagten wir.
Er aß seine Suppe, wir schlürften unseren Kaffee. Beim Suppeessen vertiefte er sich die ganze Zeit in den Teller.
»Wissen Sie, wo der Ort auf dem Foto ist?«, fragte ich.
»Natürlich. Sehr gut sogar.«
»Verraten Sie es uns?«
»Einen Moment!«, sagte der Schafprofessor und stellte den leeren Suppenteller zur Seite. »Alles schön der Reihe nach. Erst sollten wir über 1936 reden. Ich fange an, ihr erzählt weiter.«
Ich nickte.
»Um es kurz zu machen«, begann der Schafprofessor. »Das Schaf ergriff von mir Besitz im Sommer 1935. Bei der Erkundung geeigneter Weideplätze nahe der mandschurisch-mongolischen Grenze verirrte ich mich und verbrachte die Nacht in einer Höhle, die ich zufällig entdeckt hatte. Im Traum erschien mir ein Schaf, das mich fragte, ob es in mich hinein dürfte. Ich sagte, ich hätte nichts dagegen. Damals dachte ich mir nichts Besonderes dabei. Es war schließlich nur ein Traum, das war mir klar.« Der alte Mann lachte gedankenverloren und aß seinen Salat. »Es gehörte einer Rasse an, die ich bis dahin noch nie gesehen hatte. Von Berufs wegen kannte ich alle Schafrassen dieser Erde, aber das war ein besonderes Schaf. Die Hörner merkwürdig gewunden, die Beine gedrungen und untersetzt, die Augen klar wie Quellwasser. Es hatte schneeweißes Fell, nur an einer Stelle auf dem Rücken wuchs braune Wolle, in der Form eines Sterns. So ein Schaf gab es nirgendwo. Und gerade deshalb erlaubte ich ihm, in mich zu fahren. Als Schafforscher konnte ich mir doch so eine seltene Art nicht entgehen lassen!«
»Und was war das für ein Gefühl, als das Schaf in Ihren Körper fuhr?«
»Nichts Besonderes. Ich spürte nur, dass es da war. Als ich am anderen Morgen aufstand, wusste ich, es war in mir. Ein ganz natürliches Gefühl.«
»Haben Sie je an Kopfschmerzen gelitten?«
»Kein einziges Mal, seit meiner Geburt.«
Der Schafprofessor tunkte jedes Fleischklößchen sorgfältig in die Soße, bevor er es in den Mund schob und herzhaft kaute. »Dass Schafe in den menschlichen Körper eindringen, ist im Norden Chinas, in der Mongolei, gar nichts Außergewöhnliches. Die Leute dort glauben, es sei eine Gnade Gottes, wenn ein Schaf in einen Menschen fährt. In einer Schrift aus der Yüan-Dynastie wird beispielsweise berichtet, Dschingis Khan sei von einem ›weißen Schaf, welches einen Stern trug‹ bewohnt worden. Interessant, was?«
»Höchst interessant.«
»Schafe, die in Menschen eindringen können, werden für unsterblich gehalten, ebenso der Mensch, der ein Schaf in sich trägt. Aber sobald ihm das Schaf entkommt, verliert er seine Unsterblichkeit. Alles hängt vom Schaf ab. Wenn es ihm gefällt, bleibt es mehrere Jahrzehnte im selben Menschen, wenn nicht – schwupp, und weg ist es. Menschen, die von einem Schaf verlassen werden, nennt man dort gemeinhin ›Schaflose‹. Mit anderen Worten, Menschen wie ich.«
Schluck, schmatz.
»Von dem Zeitpunkt an, da das Schaf in mir war, begann ich, volkskundliche Überlieferungen über solche Schafe zu studieren. Ich befragte die Einheimischen und las alte Schriften. Inzwischen verbreitete sich unter den Leuten das Gerücht, ich selbst trüge ein Schaf in mir, und das kam auch meinem Vorgesetzten zu Ohren. Ihm gefiel die Sache nicht. Und so wurde ich, mit dem Etikett ›geistesgestört‹ versehen, in die Heimat zurückgeschickt. Typischer Fall von
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