Wilde Schafsjagd
›Kolonienkoller‹.«
Der Schafprofessor hatte die drei Fleischklößchen verdrückt und machte sich nun an die Brötchen. Man freute sich direkt mit, dass dieser Hunger gestillt wurde.
»Japans zentrale Torheit in der jüngsten Geschichte war, dass es von den Völkern Asiens nicht das Geringste gelernt hat. Das Schaf ist ein Paradebeispiel dafür. Die Schafzucht in Japan schlug fehl, weil man sich bloß auf den Aspekt Selbstversorgung mit Wolle und Fleisch konzentrierte. Es mangelte an ganz alltäglichem Wissen. Man war nur am Ergebnis interessiert, wollte Gewinn herausschlagen, ohne Zeit zu investieren. Mit allem ging man so um. Man stand nicht mit beiden Beinen auf der Erde. Dass Japan den Krieg verloren hat, hatte schon seinen Grund!«
»Das Schaf ist also mit Ihnen nach Japan gekommen?«, sagte ich, um das Gespräch wieder aufs Thema zu bringen.
»Ja«, sagte der Schafprofessor. »Ich fuhr von Pusan aus mit dem Schiff zurück, und das Schaf kam mit.«
»Was in aller Welt hatte das Schaf vor?«
»Das weiß ich eben nicht!«, brach es aus ihm heraus. »Ich weiß es nicht. Das Schaf hat es mir nicht verraten. Aber dass das Biest etwas Großes vorhatte, war mir auch so klar. Ein gewaltiger Plan, der die Menschheit und die Welt radikal verändert.«
»Und das soll ein einziges Schaf versucht haben?«
Der Schafprofessor nickte, schob das letzte Stück Brötchen in den Mund und klopfte sich die Hände ab. »Das ist überhaupt nicht verwunderlich. Denk nur daran, was Dschingis Khan vollbracht hat.«
»Das ist wahr«, sagte ich, »aber warum hat das Schaf gerade diesen Zeitpunkt und ausgerechnet Japan gewählt?«
»Wahrscheinlich habe ich es aufgeweckt. Es hat sicher einige hundert Jahre lang in dieser Höhle geschlafen. Und ich , ausgerechnet ich , musste es aufwecken!«
»Es ist nicht Ihre Schuld«, sagte ich.
»Doch, doch«, sagte der Schafprofessor, »es ist meine Schuld. Ich hätte alles früher durchschauen müssen. Dann hätte ich etwas unternehmen können. Aber ich brauchte Zeit. Und als ich die Sache endlich durchschaute, war das Schaf schon über alle Berge.«
Der Schafprofessor verstummte und rieb sich seine zapfigen Brauen. Es war, als wäre die Last zweiundvierzig langer Jahre bis in den letzten Winkel seines Körpers gedrungen.
»Eines Morgens wachte ich auf, und das Schaf war verschwunden. Da begriff ich endlich, was es hieß, ein ›Schafloser‹ zu sein. Die Hölle! Das Schaf geht und lässt eine Idee zurück. Aber ohne das Schaf kann man die Idee nicht freisetzen. Das genau bedeutet ›schaflos‹.«
Der Schafprofessor schneuzte sich noch einmal in ein Papiertaschentuch. »So, jetzt seid ihr an der Reihe.«
Ich erzählte den letzten Teil der Geschichte, nachdem das Schaf den Schafprofessor verlassen hatte: Wie es in den Körper eines jungen, im Gefängnis sitzenden Rechtsextremisten eindrang. Wie dieser dann nach seiner Haftentlassung an die Spitze der Rechten rückte. Wie er aufs chinesische Festland ging, dort ein Informationsnetz aufbaute und ein Vermögen machte. Wie er nach dem Krieg zwar als Hauptkriegsverbrecher verhaftet wurde, man ihn dann aber im Austausch gegen seine Kenntnisse des kontinentalen Informationsnetzes freiließ. Und wie er sich schließlich im Nachkriegsjapan mit Hilfe des Vermögens, das er aus China mitgebracht hatte, der politischen, wirtschaftlichen und informationstechnischen Schaltstellen bemächtigte, usw., usw.
»Ich habe schon von diesem Mann gehört«, sagte der Schafprofessor bitter. »Das Schaf scheint einen geeigneten Wirt gefunden zu haben.«
»Aber im Frühling dieses Jahres verließ das Schaf den Mann. Er liegt derzeit im Koma und wird sterben. Seine Gehirnkrankheit wurde von 1936 bis zu diesem Frühjahr durch das Schaf kompensiert.«
»Der Glückliche. Für einen ›Schaflosen‹ ist es besser, ohne Bewusstsein zu sein.«
»Wieso das Schaf wohl den Körper des Mannes verlassen hat? Wo es doch all die Jahre auf den Aufbau dieser gigantischen Organisation verwandt hat.«
Der Schafprofessor stieß einen tiefen Seufzer aus. »Verstehst du denn immer noch nicht? Mit diesem Mann verhält es sich genauso wie mit mir. Der Grenzwert wurde erreicht, es lohnte sich nicht mehr! Die Leistungsfähigkeit eines Menschen ist begrenzt, und ein Mensch, der an seine Grenzen gestoßen ist, nutzt dem Schaf nicht mehr. Wahrscheinlich war er letztlich doch nicht ganz in der Lage, das wahre Ziel des Schafs zu begreifen. Seine Aufgabe war, eine riesige Organisation
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