Wilde Schafsjagd
aufzubauen, und als er sie erfüllt hatte, wurde er fallen gelassen. Mich hat das Schaf als Transportmittel benutzt – im Grunde nichts anderes.«
»Tja, aber was hat das Schaf seitdem unternommen?«
Der Schafprofessor nahm das Foto vom Schreibtisch und tippte mit dem Zeigefinger darauf. »Es zieht durch Japan. Auf der Suche nach einem neuen Wirt. Wahrscheinlich will es diesen Menschen dann mit irgendwelchen Tricks an die Spitze der Organisation setzen.«
»Aber was ist das Ziel des Schafs?«
»Wie ich vorhin schilderte, ich bin leider nicht in der Lage, es mit Worten auszudrücken. Ich kann nur so viel sagen: Sein Ziel besteht in der Verwirklichung der Schafidee.«
»Ist das etwas Positives?«
»Im Sinne der Schafidee, selbstverständlich ja.«
»Und in Ihrem Sinne?«
»Das weiß ich doch nicht!«, sagte der Schafprofessor. »Ich weiß es wirklich nicht. Seitdem das Schaf mich verlassen hat, weiß ich nicht einmal, zu welchem Teil ich wirklich ich bin oder nur der Schatten des Schafs!«
»Sie sprachen eben davon, dass Sie etwas hätten unternehmen müssen. Was wäre das denn gewesen?«
Der Schafprofessor schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht die Absicht, dir das zu verraten.«
Wieder lag Stille über dem Raum. Jenseits des Fensters begann es stark zu regnen. Der erste Regen, seit wir nach Sapporo gekommen waren.
»Würden Sie uns dann bitte zum Schluss sagen, wo der Ort auf dem Foto ist?«, sagte ich.
»Es ist die Weide, wo ich neun Jahre gelebt und Schafe gezüchtet habe. Das Grundstück wurde kurz nach dem Krieg von der amerikanischen Armee beschlagnahmt, und als man es mir zurückgab, habe ich es als Wochenendanwesen mit Schafweide an einen wohlhabenden Mann verkauft. Es scheint immer noch derselben Person zu gehören.«
»Werden dort immer noch Schafe gezüchtet?«
»Das weiß ich nicht, aber dem Foto nach zu urteilen, scheint das auch heute noch der Fall zu sein. Der Ort ist jedenfalls vollkommen entlegen, kein anderes Haus, soweit das Auge reicht. Im Winter ist sogar die Zufahrtsstraße blockiert. Der Besitzer wohnt wahrscheinlich nur zwei, drei Monate im Jahr dort. Aber es ist ein schönes, ruhiges Fleckchen Erde.«
»Und wer kümmert sich um das Anwesen, wenn der Besitzer nicht da ist?«
»Im Winter wird wohl niemand dort sein. Außer mir gibt es sicher keinen Menschen, der in einer solchen Gegend einen Winter verbringen will. Die Schafe kann man gegen Bezahlung bei der Städtischen Schäferei am Fuß des Berges in Verwahrung geben. Das Hausdach ist so gebaut, dass der Schnee automatisch hinuntergleitet, und um Diebstahl braucht man sich nicht zu sorgen. Selbst wenn jemand dort oben etwas stehlen würde, er hätte es schwer, seine Beute in die Stadt hinunterzuschaffen. Dort oben fällt nämlich eine Unmenge Schnee.«
»Ob im Moment jemand da ist?«
»Tja. Um diese Jahreszeit wird vermutlich schon niemand mehr oben sein. Es wird bald schneien, und die Bären streifen jetzt auf Nahrungssuche durch das Gelände, bevor sie ihren Winterschlaf halten … wollt ihr etwa dorthin?«
»Ja, ich glaube, wir müssen. Es ist unsere einzige Hoffnung.«
Der Schafprofessor schwieg eine Weile. In seinen Mundwinkeln klebte Tomatensoße von den Fleischklößchen.
»Um die Wahrheit zu sagen, es ist schon einmal jemand hier gewesen und hat mir Fragen über die Weide gestellt. Das war ungefähr im Februar dieses Jahres. Was Alter und Erscheinung angeht – ja, er sah dir ähnlich. Das Bild in der Lobby habe ihn neugierig gemacht, sagte er. Und weil ich gerade Langeweile hatte, habe ich ihm einiges erzählt. Er wollte es als Material für einen Roman verwenden.«
Ich nahm ein Foto aus meiner Tasche, auf dem Ratte und ich gemeinsam zu sehen waren, und gab es ihm. Jay hatte es im Sommer 1970 in seiner Kneipe für uns aufgenommen. Ich sah gerade zur Seite und rauchte, während Ratte der Kamera zugewandt mit dem Daumen nach oben deutete. Wir beide – jung und braungebrannt.
»Einer davon bist du«, sagte der Schafprofessor und knipste die Schreibtischlampe wieder an, um sich das Foto anzusehen. »Jünger als jetzt.«
»Das Foto ist acht Jahre alt«, sagte ich.
»Der andere könnte der Mann sein. Er war älter und trug einen Bart, aber die Ähnlichkeit ist unverkennbar.«
»Er trug einen Bart?«
»Ja, einen gepflegten Schnäuzer, der Rest war ein Dreitagebart.«
Ich versuchte mir Rattes Gesicht mit Bart vorzustellen, aber es gelang mir nicht recht.
Der Schafprofessor zeichnete uns detailliert auf, wie
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