Wilde Wellen
deutlich zu hören waren. Sie sprang auf. Sie musste noch einmal mit diesem Schäfer reden.
Es schien, als ob er jeden in der Gegend kannte. Selbst wenn er am Abend von Célines Tod nicht in der Nähe gewesen war â vielleicht hatte er eine Ahnung. Oder er hatte in den Tagen nach dem Unfall vielleicht ein verdächtiges Auto gesehen. Wer weiÃ, vielleicht war der Fahrer noch einmal zurückgekommen, um zu sehen, ob es einen Hinweis auf ihn gab? Genau wusste Marie nicht, wieso ihr dieser Fall keine Ruhe lassen wollte. War es, weil Céline Pauls Mutter war?
Da war ein auffälliges Funkeln in der Wiese. Eine Glasscherbe wahrscheinlich, in der sich ein letzter Sonnenstrahl fing. Marie ging an den Kreidezeichen, die die Polizisten nach dem Unfall auf der StraÃe hinterlassen hatten, vorbei auf den StraÃenrand zu. Es konnte nichts Wichtiges sein. Sowohl die Kollegen aus Brest als auch sie selbst hatten hier alles abgesucht und nichts gefunden. Sie bückte sich. Und dann hatte sie es in der Hand. Das erhoffte Beweisstück. Nur eine Sekunde lang fragte sie sich, wieso sie es alle übersehen hatte, dann griff sie zu ihrem Handy.
»Ich habe eine Scherbe gefunden. Vermutlich von einem Autoscheinwerfer. Ganz in der Nähe des Unfallorts. Ich bringe sie euch sofort, damit sie untersucht werden kann.«
Sie packte die Scherbe vorsichtig in ein Taschentuch, um Fingerabdrücke, die sich eventuell darauf befanden, nicht zu verwischen. Es war ihr sofort klar, dass es sich nicht um ein neues Auto handeln konnte, zu dem diese Scherbe gehörte. So eine Art Plastik wurde schon lange nicht mehr für Autoscheinwerfer verwendet. Und die Form, die sich aus der Scherbe erahnen lieÃ, deutete auch darauf hin, dass es sich um ein älteres Baujahr handeln musste. Vielleicht hatte sie tatsächlich etwas in der Hand. Wenn es sich wirklich um ein älteres Automodell handelte, dann würde man es vielleicht finden. Und damit seinen Besitzer. Komisch war nur, dass sie die Scherbe erst jetzt gefunden hatte.
2
Paul hätte nie gedacht, dass es einmal eine Situation geben würde, in der er froh war, dass er auf Sara gehört hatte. Diese Halle, in der der Butler ihn auf Madame LaRue warten lieÃ, raubte ihm den Atem. Der Marmorboden, in den Intarsien aus farbigem Granit eingelassen waren, spiegelte den enormen Kristalllüster wider, der von der sicher zehn Meter hohen Decke zwischen den beiden geschwungenen Treppenläufen herunterhing und auf dem mehr als hundert Kerzen brannten.
Sie warfen flackerende Schatten auf die Gemälde, die die Wände bedeckten. Englische Landschaften von William Turner, ein Seestück von Claude Monet, dazwischen eine Venedig-Ansicht von Canaletto. Paul war froh, dass er nicht in Jeans und Pullover erschienen war, sondern in seinem einzigen Anzug, den er auch angehabt hatte, als man ihm die Doktorwürde verlieh.
»Ich freue mich sehr, dass Sie es einrichten konnten, Dr. Racine.«
Sie war viel kleiner, als er erwartet hatte. Sehr schmal, fast zart. Sie reichte Paul ihre Hand, die er kaum zu drücken wagte, so zerbrechlich fühlte sie sich an.
»Ich danke für die Einladung, Madame LaRue.« Mit einem Lächeln bat sie ihn, ihr zu folgen. Plauderte auf dem Weg durch dieses unglaubliche Haus, dem die gewagte Mischung aus edelsten Antiquitäten, modernen Plastiken und ungewöhnlichen Designstücken die lässige Anmutung eines selbstverständlichen Umgangs mit Kunst und Kultur gab, über das Wetter, über die Kinopremiere mit der unvergleichlichen Cathérine Deneuve, der sie gestern beigewohnt hatte, über das hübsche Haus, in dem Paul wohnte. Letzteres verblüffte Paul. Sie wusste, wo er wohnte?
»François und ich liebten es, an der Atlantikküste zu segeln. Schon bei unserem ersten Turn habe ich das Haus auf der Klippe entdeckt. Und mich in es verliebt.« Mit einer anmutigen Geste strich sie die langen schwarzen Haare, die wie Rabengefieder glänzten, hinter ihre kleinen Ohren, an denen diamantene Ohrringe in Form eines Sternenschwarms baumelten. Der perfekte Schnitt ihres Gesichts wurde durch sie noch mehr betont. Sara und die Gazetten hatten recht: Florence LaRue war wirklich eine auÃergewöhnliche Erscheinung. Fast so groà wie er, ungewöhnlich schlank, wirkte sie in dem nachtblauen, streng geschnittenen Hosenanzug, zu dem sie ein weiÃes T-Shirt trug, auf den ersten Blick eher kühl und
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