Wilde Wellen
Und da war sie wieder, die Erinnerung an jene Nacht, in der er auf der Terrasse gestanden und in den wüsten Sturm über dem Atlantik geblickt hatte. Der Knall der Explosion mischte sich mit dem unheilvollen Ãchzen des Schiffes, als es in der Mitte auseinanderbrach. Und mit den Schreien der zum Tod im eisigen Meer verurteilten Männer. Wie ein schwarzer Schwall brachen die Bilder, die sich in den Jahren vor seinem geistigen Auge zu einem fürchterlichen Horrorfilm zusammengebraut hatten, über ihm zusammen. Die Buchstaben des Erpresserbriefs tanzten vor seinen Augen. Musste er diesen Schrieb tatsächlich ernst nehmen? Musste er davon ausgehen, dass es jemanden gab, der hinter sein Geheimnis gekommen war? Er konnte nicht ausmachen, aus welcher Richtung dieser neuerliche, vollkommen unerwartete Schlag kam. Eine unheilvolle Gewissheit stieg in ihm auf, dass ihm die Sache langsam aber sicher aus der Hand glitt.
»Willst du mir sagen, dass du mich verdächtigst?« Michels Blick war ein einziger, verständnisloser Vorwurf. »Du glaubst, dass ich dich erpresse? Um eine Million?« Sein Lachen klang böse. »Wenn ich dich jemals hätte erpressen wollen, hätte ich es viel früher getan. Und du kannst dir sicher sein, das du mit einer Million nicht davongekommen wärst.«
Leon wusste, dass es absurd gewesen war, Michel auch nur eine Sekunde zu verdächtigen. Wieso hatte er ihm den Schrieb überhaupt gezeigt?
»Mit einer Million könntest du ein neues Leben anfangen. Zusammen mit deiner Tochter. Irgendwo im Ausland, wo dich keiner kennt.«
»Wenn ich dich anzeige, gehe ich mit in den Knast. Hast du das vergessen?« Er hatte ja recht. Es war ein vollkommen abwegiger Gedanke.
»Du hast Marie doch nichts erzählt?«
Michel wurde langsam sauer. Nicht nur, dass diese Unterstellung eine Unverschämtheit war. Dass Leon auch Marie zutraute, eine Erpresserin zu sein, machte ihn unheimlich wütend.
»Sie ist Polizistin. Und sie ist er ehrlichste Mensch, der mir je begegnet ist. Wie kannst du es wagen, so etwas auch nur zu denken? Marie hat mit dem Sumpf, in dem wir stecken, nichts zu tun!«
»Und wer erpresst mich dann?«
»Keine Ahnung.«
»Und was soll ich tun?«
Es war bemerkenswert, wie kleinlaut Leons Stimme klang. Sollte der selbstbewusste Mann endlich auch einmal in die Knie gehen? Angst haben? Davor, jemandem ausgeliefert zu sein, den er nicht einmal kannte? Sein unsichtbarer Gegner verdammte ihn zur Hilflosigkeit. Und das war eine Erfahrung, die Leon Menec noch nie gemacht hatte.
»Wenn ich einmal zahle, liefere ich mich ihm doch auf ewig aus. Wo steht denn, dass es mit der einen Million vorbei ist?«
Die ewige Angst der Erpressten. Der Zweifel. Die Unsicherheit. Michel spürte eine leise Genugtuung in sich aufsteigen. Leon Menec wankte. Der unbesiegbare Leon Menec, den nichts zu erschüttern schien, bekam weiche Knie.
»Du hast keine Wahl. Du musst zahlen. Oder doch, warte â natürlich hast du eine Wahl. Du kannst dem Erpresser den Wind aus den Segeln nehmen, wenn du selbst zur Polizei gehst.«
Claire betrachtete sich im Spiegel. Eine Frau in den besten Jahren. Wer hatte nur beschlossen, dass dies die besten Jahre sein sollten? Die Jahre zwischen vierzig und fünfzig waren vielleicht nicht die schlechtesten, aber ihre besten Jahre waren die gewesen, als sie als junge Mutter mit ihrem Mann und ihrem Kind ein unbeschwertes, fröhliches Leben geführt hatte. Sie hatte sich nicht um ihr Gewicht kümmern müssen und nicht um ihre Haarfarbe, hatte nicht ihr Gesicht kritisch nach neuen kleinen Fältchen abgesucht und nicht fürchten müssen, dass ihr die Zeit davonlief. Sie hatte alles im Griff gehabt; das Leben war genauso verlaufen, wie sie es geplant hatte.
Sie erinnerte sich an den Morgen ihres vierzigsten Geburtstages. Leon hatte ihr neben dem obligatorischen riesigen Rosenstrauà einen phänomenalen Diamantring geschenkt. Und gesagt, wie wunderschön sie immer noch sei. Die feine Nadel, die er ihr damit ins Herz gestoÃen hatte, schmerzte noch wie damals. Immer noch. Das implizierte, dass die Zeit verging. Immer noch . Das hieÃ, dass es irgendwann nicht mehr so sein würde. Dass ihre Schönheit von nun an nicht mehr selbstverständlich sein würde. Dass sie ein Geschenk mit Verfallsdatum war. Das Lächeln, das sie ihrem Spiegelbild zuwarf, war bitter. Eines Tages würde es
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