Wilde Wellen
Die Yacht lag im fahlen Morgenlicht, die Takelage klingelte leise im leichten Wind. Leon hatte sich auf den ersten Blick in das Schiff verliebt, als es zum Verkauf stand. In den ersten Jahren war er oft tagelang gesegelt. Meistens allein, weil Claire nicht besonders seefest war. Was ihm allerdings nicht viel ausgemacht hatte. Diese Tage auf dem Meer hatten ihm gefallen. Sich allein mit den Kräften der Natur zu messen, hatte ihm gefallen. In mehr als einem Sturm hatte er darum kämpfen müssen, sich und das Schiff sicher in den Hafen zu bringen, und es war ihm immer gelungen. Claire hatte diese Fluchten, wie sie es nannte, immer voller Unruhe betrachtet. Sie hatte ihn erst gebeten, dann angefleht, seine Touren aufzugeben. Oder wenigstens nur bei schönem Wetter und in Küstennähe zu segeln. Leon hatte über Claires Ãngste gelacht. Doch als er nach einem tagelangen Sturm, in dem die Yacht mehrmals kurz vor dem Kentern gewesen war, vollkommen erschöpft und mit einem gebrochenen Schlüsselbein nach Hause gekommen war und weder Claire noch Caspar vorgefunden hatte, musste er einsehen, dass Claire die Drohung, ihn zu verlassen, wenn er weiter sein Leben aufs Spiel zu setzen gedachte, wahr machen würde.
»Das Meer oder ich« â Claires Forderung war einfach und eindeutig gewesen. Leon hatte sich für seine Frau entschieden. Und war seit zehn Jahren nicht mehr mit seiner Yacht drauÃen gewesen. Claires Bitte aber, die Yacht zu verkaufen, war er nicht nachgekommen. Im Gegenteil, sie wurde gewartet und gepflegt. Immerhin dieses Gefühl hatte er sich bewahren wollen, dass es ihm immer möglich sein würde, wieder hinauszufahren, zu welcher Stunde auch immer. Ausgerechnet auf der Yacht sollte er das Geld für den Erpresser deponieren. Wusste der auch davon ? Dass Leon diesen heimlichen Traum hatte? Eines Tages einfach auf und davon zu segeln und alles, was ihm das Leben so schwer machte, einfach hinter sich zu lassen?
Ein Sonnenstrahl fing sich in der Messingglocke neben dem Steuerrad, als Leon den glänzenden Mahagoniboden der Yacht betrat. Im gleichen Augenblick erwachten die Möwen im Hafen und setzten mit groÃem Geschrei zu ihren morgendlichen Lufttänzen an. Leon sah sich um. Hoffte er, dass der Erpresser so dumm sei, sich in der Nähe aufzuhalten? Würde er ihn erkennen? Wollte er ihn überhaupt erkennen? Was würde er tun, wer er plötzlich vor ihm stand? Doch es war niemand zu sehen. Noch war keine Menschenseele unterwegs. Legen Sie die Tüte an der Reling ab. Leon öffnete den Koffer. Nahm die Plastiktüte heraus, die er mit einem Sisalband verschlossen hatte. Er zögerte. Eine Million Euro waren zwar keine Peanuts für ihn, doch seine Firma würde durch den Verlust nicht ins Trudeln kommen. Eine Million Euro dafür, dass sein Leben weitergehen konnte wie bisher. Er hätte auch das Doppelte dafür gezahlt. Sogar das Zehnfache. Wieso wollte der Erpresser nicht mehr Geld von ihm, wenn er ihn doch anscheinend so gut kannte? Noch einmal ein Blick über den Hafen. Die anderen Schiffe. Das Meer. Dann legte Leon die Plastiktüte an die Reling. Und verlieà das Schiff.
Das kleine Speedboot tauchte plötzlich aus dem Dunst auf, der noch über dem Meer lag. Leon hörte es kommen. Mit einem schnellen Satz versteckte er sich hinter einem der Lastwagen. Das Motorengeräusch wurde lauter. Kein Zweifel, das Boot kam in den Hafen. Leon holte das kleine starke Fernglas, das er spontan eingesteckt hatte, als er das Haus verlieÃ, aus der Tasche.
Das Geräusch war verstummt. Der Hafen lag wieder still da. Hatte er sich getäuscht? Sein Blick wanderte über seine Yacht. Ãber den Hafen. Zurück über die Yacht. Und da sah er ihn an Deck klettern. Der Mann sah sich um. Die paar Schritte zur Plastiktüte machte er im Bruchteil einer Sekunde. Er tastete sie ab. Und sprang plötzlich über Bord. Frustriert wollte Leon schon das Glas sinken lassen â er hatte nicht erkennen können, wer der Mann war, der das Geld geholt hatte. Er hatte nicht einmal erkennen können, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Der dunkle Overall, den die Gestalt trug, war weit und unförmig und verbarg jedes Zeichen, ob sein Träger weiblich oder männlich war. Eine schwarze Mütze, in die Löcher für die Augen geschnitten waren, war über Gesicht und Haare gestülpt. Der Motor des Boots heulte wieder auf.
Weitere Kostenlose Bücher