Wilde Wellen
Das konnte nicht sein. Claire und Caspar, die unter einer Decke steckten? Das war absolut unmöglich. Claire war viel zu vernünftig, dachte viel zu strategisch, um Caspar bei so einem im Grunde jugendlichen Streich zu unterstützen. Wenn Claire in ihrem Leben je in die Situation kommen würde, jemanden erpressen zu müssen, dann würde sie sich nicht mit einer läppischen Million Euro zufriedengeben. Die niemals reichen würde, ihre hohen Ansprüche an Luxus und Bequemlichkeit zu befriedigen. Nein, das konnte nicht sein. Leon war sich sicher, dass Claire nichts von Caspars Erpressung wusste. Und in diesem Moment beschloss Leon, Claire auch nichts davon zu sagen.
Maries Blick folgte Leons Auto, als es aus dem Hafengebiet wegfuhr. Die Szene, die sie gerade beobachtet hatte, kam ihr merkwürdig vor. Vor ein paar Stunden hatte sie es nicht ausgehalten, mit Thomas in ihrem kleinen Zimmer zu sein. Plötzlich war ihr die Luft knapp geworden. Als wenn sie sie in dem verzweifelten Streit, den sie führten, ganz aufgebraucht hätten. Dabei wollte sie nicht streiten. Sie wollte Thomas nicht weh tun. Aber wie sollte sie ihm sagen, dass es vorbei war, ohne ihn zu verletzen? Sorry, ich lieb dich nicht mehr, aber das Gute ist, es hat nichts mit dir zu tun . Hätte sie es so ausdrücken sollen? Sie wusste ja auch nicht genau, was mit ihr passiert war. Und wann.
»Dieser Typ, der dir sein Hemd in die Wunde gepresst hat? Dieser Archäologe, den die Zeitungen als Lebensretter gefeiert haben?« Einen Moment lang hatte Thomas gehofft, dass die Sache damit durchschaubar geworden war. Dass sie mit ihr umgehen konnten. War doch klar, dass sie sich in den Typen verliebte. So etwas kommt oft vor. Opfer verliebt sich in Retter. Wieso auch nicht? Der Retter war ein Held in diesen an Helden so armen Tagen. Und manchmal braucht man eben einen Helden in seinem Leben. An dem man sich orientieren kann. Den man bewundern kann. Dem man einfach nur dankbar sein musste, wenn er einem, wie in Maries Fall, das Leben gerettet hatte. Thomas war sich sicher, dass das vorübergehen würde. Es würde nicht lange dauern, bis Marie wieder zur Vernunft kam. Er musste nur ruhig bleiben. Sie nicht drängen. Ihr Zeit lassen. Und Geduld aufbringen.
Marie war in eine dicke Jacke geschlüpft und hatte das Haus verlassen. Auf ihrer Wanderung durch die Gassen der kleinen Stadt wollte sie ihre Gedanken ordnen. Und wusste, dass es da nichts mehr zu ordnen gab. Sie würde nach Paris zurückgehen, ja. Würde wieder anfangen zu arbeiten, ganz gewiss. Aber sie würde nicht bei Thomas bleiben. Einen Moment lang hatte sie überlegt, zu Paul zu fahren. Aber das konnte sie nicht. Sie konnte nicht mit Paul zusammen sein, während Thomas in ihrem Zimmer schlief. Sie war durch das schlafende Städtchen mäandert, dessen alte Häuser schon so viel gesehen hatten. Irgendwann hatte sie zu frösteln begonnen. Und als sich am Horizont die Ahnung des kommenden Sonnenaufgangs auftat, beschloss sie, sich im Hafenbistro einen Kaffee zu holen und ein Croissant. Michel hatte sie eines Morgens, als sie zusammen die Fische für das Café abholten, dorthin mitgenommen, und seitdem hatte sie sich immer mal wieder nach ihren morgendlichen Joggingrunden mit einem Abstecher in die kleine Kneipe belohnt. Sie war gerade in das Hafenareal eingebogen, da hatte sie einige Meter entfernt Leon Menec aus seinem Jaguar, den er zwischen zwei Lastwagen geparkt hatte, aussteigen sehen. Eigentlich nichts Besonderes. Vermutlich erwartete er eines seiner Schiffe zurück. Und wollte sich den Fang ansehen. Doch es war etwas an seiner Haltung gewesen, das sie irritiert hatte. Wieso hatte er einen Aktenkoffer dabei? Wieso wirkte er so bedrückt? Seine Haltung war nicht so aufrecht wie immer. Im Gegenteil, es schien, als würde eine Last auf seine Schultern drücken. Vielleicht war es ihr Polizisteninstinkt, der sie dazu gebracht hatte, sich im Schatten des Bistros zu verbergen und zu beobachten, was Leon tat. Und es war noch seltsamer geworden. Diese Plastiktüte, die Leon auf seiner Yacht abgelegt hatte, das Speedboot, das herangefahren war, der Mann, der sich die Tüte geholt hatte und dann mit hoher Geschwindigkeit auf das Meer hinausgerast war. Konnte es sein, dass sie gerade Zeugin einer Erpressung geworden war? Oder hatte sie zu viele Krimis im Fernsehen gesehen? Wer weiÃ, vielleicht waren Lebensmittel in der Tüte und der
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