Wilde Wellen
geschrieben. Und wenn sie geskypt hatten, hatte sie ihm ihre neuesten Klamotten vorgeführt und über sein Urteil gelacht. Wieso hatte sie niemals darauf gedrängt, realistisch über die Zukunft zu reden? Hatte sie gewusst, dass es keine Zukunft für sie gab? Hatte sie insgeheim darauf gewartet, den Menschen zu treffen, mit dem sie das haben konnte, was mit Thomas unmöglich war?
»Wir lieben uns doch, Marie.«
Thomas Stimme drang in ihre Ãberlegungen. Sie klang unsicher. Fragend. Liebten sie sich? War das Liebe gewesen? Oder nur ein erregendes und dabei sehr bequemes Spiel?
6
Eine fahle Sonne kämpfte vergeblich gegen den Dunst, der sich über das Land gelegt hatte. Der Horizont verschwamm mit dem graugelben Himmel, das ewige Geschrei der Möwen klang wie gedämpft. War es die Ahnung des kommenden Winters, der Leon fröstelnd lieÃ, als er das Schloss verlieÃ? Oder war es das unangenehme Gefühl, sich jenem Unbekannten auszuliefern, der irgendwo lauern mochte und ihn beobachtete, wie er sich mit dem Koffer auf den Weg machte, um einer Erpressung nachzugeben? Der alte Aktenkoffer in seiner Hand wog schwer, als er ihn zum Auto trug. Dabei hatte die Million Euro, die sich darin befand, doch kaum Gewicht. Zehntausend Hunderteuroscheine wogen nicht einmal zehn Kilo und waren locker in einer ganz gewöhnlichen Plastiktüte unterzubringen. Monsieur Lander, der Direktor der Bank, mit der Leon seit vielen Jahren seine Geschäfte abwickelte, hatte sein Erstaunen darüber, dass Leon so viel Geld in bar abhob, kaum verborgen. Aber selbstverständlich war er zu diskret gewesen, Leon danach zu fragen, wofür er so eine groÃe Summe Bargeld brauchte. Leon hatte etwas von einem wichtigen Geschäft gesagt, das musste genügen. Der Jaguar fuhr langsam auf der kurzen Strecke zwischen Schloss und Hafen, wo Leons Yacht lag. Früher hatte sich Leon immer über das leise Schnurren des Motors gefreut, doch heute schweiften seine Gedanken zu dem Unbekannten, der ihn in diese unausweichliche Situation gebracht hatte. Noch immer konnte er sich nicht erklären, wie er von Leons Schuld erfahren haben konnte. Aber eigentlich war das jetzt auch egal. Der andere diktierte das Spiel. Und Leon konnte nichts anderes tun, als sich auf dessen Regeln einzulassen. Er parkte den Jaguar zwischen zwei groÃen Lastwagen, die darauf warteten, den Fang, den die Fischer in der Nacht gemacht hatten, in Leons Fischfabrik zu bringen. Die Fahrer hatten sich in das kleine Bistro am Hafen zurückgezogen, das die ganze Nacht offen hatte, wo sie zu jeder Uhrzeit frischen Kaffee und Sandwichs bekommen konnten. Als junger Mann hatte Leon die Atmosphäre in diesem Bistro geliebt. Die rauen Männer, die stumm vor ihrem Kaffee saÃen, ihre schwarzen Gauloises rauchten und nur hin und wieder über einen schmierigen Witz, den einer von ihnen machte, laut auflachten, um danach sofort wieder in ihr Schweigen zurückzufallen. Der fünfzehnjährige Leon hatte sich gewünscht, einmal zu werden wie diese Männer. Stark, schlicht, mit sich und ihrer Welt zufrieden. Damals hatten sie alle noch gut vom Fischfang leben können. Die kleinen Kutter waren jeden Morgen mit einem befriedigenden Fang eingelaufen. Das Meer hatte die Fischer und ihre Familien noch gut ernährt. Inzwischen gab es kaum mehr einen privaten Fischer, der sich auf seinem Boot auf das fast leer gefischte Meer wagte, um nach Nächten härtester Arbeit mit nicht einmal halb gefüllten Tanks zurückzukommen. Nur die GroÃen wie Leon, die sich Schiffe leisten konnten, die weit in die offene See fuhren, fast bis nach Grönland, deren Schiffe mit Kühlkammern ausgestattet waren, manche davon auch mit Vorrichtungen, die schon an Bord die Fische verarbeiteten, konnten heute noch überleben. Und gar nicht mal so schlecht. Leon hatte damals die Zeichen der Zeit erkannt. Die immense Versicherungssumme, die er nach dem Untergang der Helena eingestrichen hatte, hatte er klug in seine Fischfangflotte investiert und in den Bau seiner Fabrik, in der der Fisch zu Tiefkühlgerichten verarbeitet wurde, die man in jedem Supermarkt kaufen konnte. Um dies alles, was er als sein Lebenswerk betrachtete, zu retten, für sich und seinen Erben Caspar, hatte er sich auf den Erpresser eingelassen. Trotzdem verlangsamte sich sein Schritt, als er an der Hafenmauer entlang auf seine elegante Segelyacht zuging. Tat er wirklich das Richtige?
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