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Wilde Wellen

Wilde Wellen

Titel: Wilde Wellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Sadlo
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Es schoss aufs Meer hinaus, das im Licht der aufgehenden Sonne smaragdgrün schimmerte. Instinktiv richtete Leon das Glas auf das Boot. Kannte er es vielleicht? Wusste er, wem es gehörte? Doch das schnelle Boot, das sich langsam im Dunst verlor, der noch über dem Meer lag, kam ihm nicht bekannt vor. Da fuhr sie also hin, die Million Euro. Vielleicht hatte er Glück und der Erpresser würde sich mit der Summe zufriedengeben.
    Er hatte sie. Er hatte die Million Euro, die die Basis für sein neues Leben bilden würde. Hier in dieser unscheinbaren, rotweißen Supermarkttüte befand sich seine Zukunft. Nichts würde seinem Leben mit Marie nun im Weg stehen. Er gab Gas und jagte das Boot mit aufheulendem Motor in einem wilden Ritt über die Wellen. Wow! Das war es. Der Wind, der ihm die Gischt ins Gesicht peitschte, der harte Aufschlag des Bootes auf den Wellen, sein Herz, das gegen seine Brust hämmerte, seine Atemzüge, die zu einem angestrengten Ringen um Luft wurden. Das war das Leben. Ungestüm und unberechenbar. Es war Caspar, als hätte er einen Schritt in eine neue Dimension getan. Das war er. Er, Caspar Menec, der sein Leben selbst in die Hand nahm. Der sich nie mehr etwas diktieren lassen würde. Nicht von seiner Mutter. Nicht von seinem Vater. Nicht von der Fabrik der toten Fische. Er hatte es gewagt. Und er hatte gewonnen. Als er mit einem Schrei die Mütze von seinem Kopf riss und ins Meer warf, das sich hinter dem Boot zu schäumenden Wirbeln bauschte, und den Overall gleich hinterher, befiel ihn das Gefühl von Unabhängigkeit und Freiheit, auf das er so gewartet hatte. Frei. Er war tatsächlich frei. Frei für ein Leben fernab der Pläne seiner Mutter und der bedrückenden Hoffnung seines Vaters.
    Leon ließ das Fernglas sinken. Sein Blick war der eines Toten. Dumpf. In einem grauen Gesicht. Er wünschte, er hätte das Fernglas nicht dabeigehabt. Er wünschte, er hätte es nicht noch einmal auf das Boot gerichtet, das doch schon fast im Dunst verschwunden war. Es war ein letzter Impuls gewesen. Er wollte gerade in den Jaguar einsteigen; das Glas hatte er schon in seiner Jackentasche verstaut. Wieso er es noch einmal an die Augen geführt hatte, konnte er nicht sagen. Hätte er es doch nicht getan. Denn was er gesehen hatte, hatte in einer einzigen Sekunde jeden Sinn in seinem Leben in Frage gestellt. Caspar. Dieser Sohn, den er so liebte. Dieser Junge, dem er keinen Wunsch abschlagen konnte. Dieses Geschenk Gottes, das ihm vor vielen Jahren gemacht worden war und für das er jeden einzelnen Tag seines Lebens dankbar gewesen war, war der Erpresser! Caspar erpresste seinen Vater? Es war weniger die Frage, woher Caspar das Wissen über Leons Schuld hatte, mit dem er ihn erpresste. Das spielte in diesem Moment, als Leon zusammengesunken hinter dem Steuer des Jaguars saß, nicht die geringste Rolle. Es war die Frage, wieso dieser Sohn, der sein Erbe sein würde, ihn nicht um dieses Geld gebeten hatte. Wenn er eine Million brauchte, hätte er sie doch von ihm bekommen. Vielleicht hätte er ihn gefragt, wofür er das Geld brauchte, aber wenn Caspar ihm das nicht hätte sagen wollen, hätte er vermutlich nicht darauf gedrungen. Wieso also? Wieso griff Caspar zu diesem ungeheuerlichen Mittel? Leon hätte nicht sagen können, wie er sich fühlte. Erschöpft? Frustriert? Enttäuscht? Gekränkt? Er fragte sich, wieso ihn in diesem Moment kein Herzinfarkt niederstreckte. Niemanden würde das wundern. »Es war alles zu viel für den armen Mann«, würden sie sagen. »Célines Tod, die Erpressung, dann dieses ewige Schuldgefühl wegen der Helena und das unlösbare Zerwürfnis mit seiner Tochter Eva.« Sie würden sagen, der Infarkt sei absehbar gewesen. Kein Mensch könne sich über so viele Jahre quälen, ohne dass sein Herz angegriffen würde. Man würde ihn bedauern. Und noch viel mehr Claire und Caspar, die ihren Ehemann und Vater so plötzlich verloren hatten. Caspar würde sich womöglich schuldig fühlen. Vielleicht war das mit der Erpressung doch der Tropfen zu viel, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Claire würde ihn trösten und ihm sagen, dass er nichts dafürkönne. Dass Leon schon so lange unter viel zu großer Anspannung gelebt habe. Claire würde Caspar sagen …? Leon zog hastig den Erpresserbrief aus seiner Brieftasche. Sollte Claire …?

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