Wilde Wellen
ersten Moment hat man das Gefühl, als würde einem das Herz stehen bleiben. Ãbelkeit steigt in einem auf, die Erde scheint zu wanken, die Knie scheinen weich zu werden. Vergeblich versucht man, irgendwo Halt zu finden. Doch es ist, als wäre man in schwarze Watte gehüllt. Dem Schock folgt ein verzweifelter Moment des Unglaubens.
»Das kann nicht sein. Sie müssen sich irren. Ich habe ihn doch gerade noch gesehen.« Man ist nicht in der Lage, das Unfassbare zu fassen. Und weià doch in seinem tiefsten Inneren, dass es wahr ist.
Sabine legte den Arm um ihre Tochter, die von einem Moment zum anderen weià wie die Schürze der Bäckerin geworden war. Sie lehnte das fürsorglich angebotene Glas Wasser ab und führte ihre Tochter aus der Bäckerei, die sich plötzlich anfühlte wie eine Kühlkammer. Auch wenn ihr das Entsetzen selbst das Herz zu zerreiÃen drohte, galt ihre einzige Sorge ihrer Tochter. Die ihren Vater vor vielen Jahren verloren hatte. Die, auch wenn sie es nicht zugegeben hätte, immer gehofft hatte, ihn wiederzufinden und die jetzt in einer Sekunde all dieser Hoffnung auf eine Versöhnung mit Leon beraubt wurde. Es gab keinen Trost in diesem Moment. Nichts, was die Fassungslosigkeit, die Evas Gesicht verzerrte, hätte mildern können. Erst Céline, dann Michel, dann Leon. Sabine war es, als würde die Erde unter ihr beben. Und in die Sorge um ihre Tochter mischte sich eine tiefe Traurigkeit. Der Mann, der der Vater ihrer geliebten Tochter war, der Mann, mit dem sie einige sehr glückliche Jahre verbracht hatte, der Mann, der bis zum heutigen Tag ein wichtiger Teil ihres Lebens gewesen war, war ertrunken. In einer Nacht, die so stürmisch war wie jene, als die Helena untergegangen war, hatte das Meer ihn sich geholt.
Marie war da gewesen. Wie fürsorglich sie sich um ihn und seine Mutter gekümmert hatte. Sie hatte ihm geholfen, Claire, die gar nicht mehr aufhören konnte zu zittern, aufs Sofa zu betten, sie in eine warme Decke zu hüllen und mit heiÃem Tee zu versorgen. Sie hatte den Arzt angerufen, der gekommen war und Claire eine Beruhigungsspritze gegeben hatte, worauf sie ziemlich schnell eingeschlafen war. Und sie hatte dafür gesorgt, dass er etwas zu trinken und zu essen bekam. Sie hatte angeboten, sich bei der Polizei, die die Suche nach Leon aufgenommen hatte, laufend nach dem Stand der Dinge zu erkundigen. Sie war sogar bereit gewesen, eine Weile lang im Schloss zu bleiben und sich um Claire und ihn zu kümmern. Es war groÃartig, mit welcher Selbstverständlichkeit sie das tat. Sorgte man so für Menschen, die einem gleichgültig waren? Natürlich nicht, da war er sicher. Marie war bei ihm, weil sie mit ihm fühlte. Weil sie ihn trösten wollte. Weil sie ihm in diesen schweren Stunden beistehen wollte. Weil sie ihn liebte. Natürlich, etwas anderes konnte es nicht sein als eine tiefe, wahre Liebe. Die sich in Zeiten des Schmerzes und der Not am deutlichsten offenbarte. Wie gern hätte er ihr Angebot angenommen. Sie wäre bei ihm geblieben. So lange er es gewollt hätte. Sie hatte nicht an sich und ihren Kummer um Michel gedacht. Sondern nur an ihn. Aber er hatte sich als tapfer darstellen wollen. Er war nun der Mann im Haus. Er würde sich um seine Mutter kümmern. Weil er stark war. Weil auch die Trauer um seinen Vater ihn nicht ins Wanken bringen konnte. Das war es, was er Marie beweisen wollte. Dass er ein Mann war, auf den man sich in Zeiten des Unglücks stützen konnte. Er hatte sich bei ihr bedankt und ihr versichert, dass er schon klarkäme. Mit seiner Mutter. Und mit der Firma. Denn, das war ihm mit einem Schlag bewusst geworden, die Firma stand ja plötzlich ohne Chef da. Er hatte keine Wahl, er musste auf den Platz seines Vaters nachrücken. Ob er das wollte oder nicht.
Als er Marie zur Tür brachte und ihr noch einmal versicherte, dass es ihm gut ging, kam er sich zum ersten Mal in seinem Leben erwachsen vor. Das Leben hatte ihm gerade einen sehr üblen Streich gespielt, aber er war entschlossen, sich davon nicht aus der Bahn werfen zu lassen. Es tat ihm gut, dass Marie ihm versicherte, für ihn da zu sein, wenn er sie brauchte.
»Ruf mich jederzeit an, wenn du mich brauchst. Ich bringe euch gern was zu essen, aus dem Restaurant. Und auch, wenn du nur mit jemandem reden willst, sag einfach Bescheid.« Ihre Umarmung fühlte sich gut und warm an. Ihr Lächeln
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