Wilde Wellen
schätzte, sich als ein Mann mit einer dunklen Seite erwies. Von der man keine Ahnung hatte. Von der man sich aber im Nachhinein durchaus bedroht fühlen konnte. Was auch immer die Beweggründe seiner Gäste waren, bei ihm zu essen, das Lokal war voll und Michel stürzte sich in die Arbeit. Die Fischsuppe war grandios wie immer. Der Barsch im Salzmantel ein Gedicht. Er war wieder in seinem Element und freute sich über die Komplimente, mit denen er überhäuft wurde. Und doch war da etwas in ihm, das ihn beunruhigte. Es war nicht die Trauer um seinen besten Freund Leon. Die war normal. Da war dieses eigentümliche Gefühl, dass etwas nicht stimmte mit ihm. War es wirklich das, was er sich von seiner Zukunft erwartete? Ein Leben als Koch? Ging ihm nicht alles viel zu selbstverständlich von der Hand? Die Fischsuppe, die er blind kochen konnte? Die Pommes Dauphines, die schmelzend zart daherkamen wie immer? Die Hektik in der Küche lieà ihm keine Zeit zum Nachdenken. Doch es war, als würden die Zweifel wie kurze, weiÃe Blitze durch seinen Kopf schieÃen. Es erinnerte ihn an früher, als er hin und wieder am Hafen gestanden und seine Karre mit frischem Fisch beladen hatte. Wenn dann einer der groÃen Trawler ausgelaufen war, hatte ihn einen winzigen Moment lang dieses Gefühl von Neid durchschnitten. Brennend. Glühend. Schmerzhaft. Er hatte es sofort weggeschoben. Wollte es nicht beachten. Nicht ernst nehmen. Sich nicht davon verführen lassen. Und hatte es vergessen. Bis zum nächsten Mal, da es aufgetaucht war. Mit der Zeit waren die Abstände gröÃer geworden, und seit Marie in sein Leben getreten war, war das Gefühl überhaupt nicht mehr aufgetaucht. Bis jetzt.
Marie hatte ihrem Vater angeboten, in der Küche auszuhelfen. Es war ihr klar, dass sie sich langsam Gedanken darüber machen musste, wie ihr berufliches Leben weitergehen sollte. Das Normalste wäre, wenn sie nach Paris in ihren Beruf als Polizistin zurückkehren und die Ausbildung zur höheren Laufbahn als Kriminalpolizistin antreten würde. Das war ihr Plan gewesen, bevor sie angeschossen worden war. Aber es war merkwürdig, dieses Leben in Paris erschien ihr plötzlich so weit weg. Wollte sie wirklich dort weitermachen, wo sie vor einigen Wochen aufgehört hatte? Konnte sie das? Einfach so tun, als wäre nichts geschehen. Während sie die Karotten für die Wildschweinsauce würfelte, verloren sich ihre Gedanken. Da war ihr Vater, dem sie sich immer näher fühlte, da war dieses schroffe Land, in das sie sich inzwischen verliebt hatte. Da war Paul. Dieser Mann, der ihr das Leben gerettet hatte und mit dem sie wunderbare Tage und noch schönere Nächte verbrachte. Es war nicht nur das Wissen darum, dass sie nicht mehr leben würde, wenn Paul in Paris nicht spontan gehandelt hätte, als sie auf dem Pflaster gelegen hatte und zu verbluten drohte. Jedes der Ereignisse der letzten Wochen schien sie einander näher gebracht zu haben. Célines Tod. Michels Verhaftung. Sogar Leons Verschwinden, das eigentlich mit ihnen beiden nichts zu tun hatte. Aber ebenso wie sie schien Paul zu spüren, dass alle drei Ereignisse etwas miteinander zu tun hatten, dass selbst sie, die nie in diesem Landstrich gelebt hatte, in die Geheimnisse um die Menschen, von denen sie abstammten, verstrickt waren. Sie kannte die Antwort. Bevor sie nicht herausgefunden hatte, was es war, was Leon, Céline und Michel â und dadurch auch sie und Paul â verband, würde sie nicht wissen, wie ihr Leben weitergehen sollte. Nur eins war ihr klar: Sie wollte Paul nicht verlieren. Egal für welchen Weg sie sich schlieÃlich entscheiden würde, er würde immer mit Paul zu tun haben.
»Florence LaRue stellt mir ein Ultimatum.« Marie hatte nicht mitbekommen, dass Paul die Küche betreten hatte, und fuhr erschrocken herum. Das Angebot. Sie hatte es vollkommen vergessen in den letzten Tagen. Ihr Herz klopfte mit einem Mal so heftig, dass sie das Messer, das sie in der Hand hatte, weglegen musste. Hatte Paul sich entschieden? Würde er dieses verlockende Angebot, das man als Wissenschaftler in seiner Position eigentlich nicht ablehnen durfte, annehmen? Er musste es annehmen. Er hatte ihr erklärt, wie selten es vorkam, dass man eine Forschung mit einem derart sicheren finanziellen Polster durchführen konnte. Er wäre ein Idiot, wenn er ablehnen
Weitere Kostenlose Bücher