Wilde Wellen
so fit war und sich so jung fühlte. Weil nach Célines Tod sowieso alles anders war. Jetzt war es zu spät. Er hatte ihre Pläne zerstört. Alles, was sie sich für ihren Sohn ausgemalt hatte. Für Caspar, der auch sein Sohn war. Sein einziger Sohn. Wie hatte er das tun können? Wie hatte er sterben können, ohne sein Versprechen gehalten zu haben?
Dekan Patou war nervös. Sicher, er schätzte den jungen Kollegen, den er eingestellt hatte. Er war stolz darauf gewesen, dass Paul Racine aus den vielen Möglichkeiten, die er gehabt hatte, sich die Universität von Brest ausgesucht hatte. Man schmückte sich gern mit vielversprechenden jungen Wissenschaftlern, die nicht nur frischen Wind in ihre Fakultät brachten, sondern sicher auch die Universität mit den zu erwartenden Forschungen unter dem Glanz internationalen Ruhms erstrahlen lassen würden. Dass Florence LaRue sich ausgerechnet um Paul Racine bemühte für ihr Forschungsprojekt in ihrem Heimatland, hatte Dekan Patous Entscheidung schon sehr schnell gerechtfertigt. Doch nun war etwas Unerwartetes geschehen. Paul Racine schien sich nicht für Florence LaRues Angebot erwärmen zu können. Als wenn es nur um seine persönliche Entscheidung ginge. Patou war sich im Klaren, dass der Geldfluss, mit dem schon François LaRue die Universität unterstützt hatte und die seine Witwe Jahr um Jahr aufs Neue flieÃen lieÃ, sehr schnell versiegen konnte. Es gab genug andere Unis, die genauso sehr in Geldnot waren wie die von Brest, und es gab sicher genauso viele junge Wissenschaftler, die das Angebot von Florence ohne zu zögern annehmen würden. Der heutige Anruf der Sponsorin hatte ihre Ungeduld deutlich gemacht. Paul Racine habe nun wahrlich lange genug Zeit gehabt, über ihr Angebot nachzudenken. Sie würde noch bis Ende der Woche warten. Wenn sie bis dahin keinen positiven Bescheid hätte, würde sie sich nach einem anderen Leiter für ihr Projekt umsehen. Patou hatte ihr eilig versichert, dass Paul selbstverständlich an dem Projekt mehr als interessiert sei. Schon morgen würde er sich melden. Mit einer Zusage.
»Es tut mir leid, aber ich kann das Angebot nicht annehmen.« Dekan Patou war nicht überrascht, als er Pauls endgültige Antwort hörte. Aber er war wütend. Und einen Moment lang dachte er darüber nach, Paul die Pistole auf die Brust zu setzen. Wenn er das Angebot nicht annehmen könne, dann müsse sich die Uni eben von ihm trennen. Doch war das klug? Sollte er sich wirklich von einem Mann wie Racine trennen? Oder war es nicht geschickter, nach einer anderen Lösung zu suchen. Vielleicht konnte er das Projekt ja anschieben. Ein halbes Jahr vor Ort sein und es dann einem Kollegen, den er bis dahin eingearbeitet haben würde, übergeben? Vielleicht könnte er als eine Art supervisierender Mentor agieren? Vielleicht als Berater, der nur hin und wieder vor Ort sein würde. Ob sich die eitle Gönnerin darauf einlassen würde, war zwar noch die Frage, aber da wollte Patou auf Pauls Charme und seinen guten Ruf vertrauen. Paul Racine nur halb zu haben war immer noch besser, als einen unbekannten Wissenschaftler, der sich den Ruhm, mit dem sich auch Florence zu schmücken hoffte, erst noch erarbeiten musste.
»Wieso will sie ausgerechnet mich? Hat sie Ihnen das mal erklärt? Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie sich überhaupt für Archäologie interessiert.« Patou war das »Wieso« einigermaÃen egal. Madame rief, und man hatte zu folgen. Es war ganz einfach. Er erinnerte Paul an die prekäre finanzielle Situation der Uni. Und daran, dass er als Mitglied der Professorenschaft durchaus auch eine Verantwortung für seine Studenten und für die Universität insgesamt habe. Wenigstens reden sollte er nochmals mit Florence LaRue. Und sie im besten Fall von einer der vorgeschlagenen Varianten überzeugen. Das war das Mindeste, was er als Dekan von ihm erwarten konnte.
Die Leute hatten gehört, dass Michel Dumont wieder frei war, und sie kamen in Scharen, um ihm zu versichern, dass sie keinen Augenblick an seine Schuld geglaubt hatten. Selbst wenn das nicht immer der Wahrheit entsprach, auf jeden Fall waren sie froh, dass sie sich nicht in Michel getäuscht hatten. Dass er doch der gute Mensch war, für den sie ihn hielten. Denn es gab kaum Schlimmeres als die Erkenntnis, dass der Mensch, den man sein Leben lang kannte und
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