Wilde Wellen
wenn er bei ihr war, würden sicher auch die Bilder von Marie Lamare wieder aus seinem Kopf verschwinden.
10
Jemand hatte auf sein Kind geschossen. Jemand hatte einfach eine Pistole gezogen und auf sein Kind geschossen. In Michels Brust tobten Wut und Verzweiflung. Sorge und Hass. Seine Tochter wäre beinahe gestorben. Bevor er sie wiedergesehen hätte. Aufstöhnend küsste er Maries blasse, kühle Hand.
»Marie.« Seine raue Stimme brachte den Namen kaum heraus.
»Marie. Wenn ich dich verloren hätte â¦Â«
Was wäre gewesen, wenn sie gestorben wäre? Wenn er keine Gelegenheit mehr gehabt hätte, sie noch einmal zu sehen?
Aber das Schicksal hatte es anders gewollt. Marie lebte. Der Arzt hatte Michel versichert, dass sie wieder gesund würde. Dass keine körperlichen Schäden bleiben würden.
»Wenn Sie wollen, können Sie Ihre Tochter schon in zwei, drei Tagen mit nach Hause nehmen«, hatte Dr. Lenoir gesagt.
»Sie muss sich noch eine Zeitlang schonen, aber schon bald wird sie wieder ganz hergestellt sein.«
»Nach Hause?« Natürlich, Michel würde seine Tochter mit nach Concarneau nehmen. Er würde sich um sie kümmern. Für sie sorgen. Um seine kleine Marie. Die er nie aufgehört hatte zu lieben. Sein wunderbares kleines Mädchen würde zu ihm zurückkommen. Und wenn nicht? Wenn sie aufwachen und ihn wegschicken würde? Wenn sie ihn mit dem gleichen hasserfüllten Blick ansehen würde wie ihre Mutter?
Michels Herz zog sich zusammen. Würde sie ihm eine Chance geben? Wenigstens die Chance, ihr alles zu erklären?
»Marie.« Er strich über die blasse Wange. Hatte er das nicht immer getan, als er sie damals ins Bett gebracht hatte? Seine süÃe kleine Tochter.
»Marie. Ich versprech dir, es wird alles gut. Alles. Wird wieder gut. Alles.« Wie ein Mantra kreiste dieser Gedanke in Michels Kopf. Es musste einfach alles wieder gut werden.
Es war nach Mitternacht, als Marie endlich die Augen aufschlug. Sie wusste nicht, wo sie war. Sie wusste nicht, was mit ihr geschehen war. Und sie wusste nicht, wer sie war. Sie sah in die Dunkelheit des Raums, die nur von kleinen bunten Punkten und einer roten Wellenlinie unterbrochen zu sein schien. Ein merkwürdiges Gefühl kroch in ihr hoch. Sie spürte ihr Herz rasen. Panik überkam sie. Was war hier los?
Ein Mann beugte sich zu ihr herunter. Ein nettes Gesicht sah sie an. Mit blauen Augen, in denen Sorge zu liegen schien. Ein Gesicht, das sie nicht kannte.
»Ich bin dein Vater, Marie«, sagte der Mann, »alles wird gut. Ich nehme dich mit nach Hause. In die Bretagne.«
11
Céline Marchand brachte ihrem Chef Leon Menec wie jeden Morgen eine Tasse Kaffee, einen Keks und die Tageszeitungen.
Wie jeden Morgen lächelte sie, als sie Leons Büro betrat, und sah, dass er am Fenster stand und aufs Meer starrte. Sie wusste, wie sehr es ihm gefiel, dass Claire und Caspar zusammen surften. Claire war eine groÃartige Sportlerin. In Caspars Alter war sie französische Meisterin im Surfen gewesen. Und auch heute machte sie auf dem Board immer noch eine hervorragende Figur.
»Sie könnte seine Schwester sein. Oder seine Freundin. Ich hab keine Ahnung, wie sie ihre Figur hält.«
Céline hörte den Stolz in seiner Stimme schwingen. Ihr Blick wanderte zum Meer. Claire Menec war seit Langem ihre Freundin. Und auch eine häufige Kundin in dem kleinen, mit Reet gedeckten Haus am Meer, in dem Céline Marchand in ihrer freien Zeit als eine Art Heilpraktikerin arbeitete. Oft kam Claire nur auf einen Tee oder eine Tasse Kaffee, um mit der Freundin über belanglose Dinge zu plaudern. Manchmal aber suchte sie Célines Rat. Nicht nur wenn ihre Nackenmuskeln verspannt waren. Sondern auch wenn es um die Erziehung ihres Sohnes Caspar ging. Der seit seiner Geburt der Mittelpunkt von Claires Leben war.
»Sie achtet gut auf sich.«
Leon nickte, als er zur Zeitung griff. Ja, das war es wohl. Claire achtete auf sich. So wie sie auf ihn achtete und auf Caspar. Sie war einfach die ideale Frau an seiner Seite. Klug. Liebenswert. Und dazu noch von einer seltenen reinen, beinahe unvergänglichen Schönheit. Es war sich jede Stunde bewusst, dass Claire das groÃe Glück seines Lebens war. Niemals würde er es zulassen, dass dieses Glück zerstört wurde. Niemals. Von niemandem.
Die Schlagzeile der groÃen Tageszeitung Le Monde sprang ihm ins
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