Wilde Wellen
darum rang, einer Vergangenheit auf die Spur zu kommen, die nicht ihre Vergangenheit war. Sie würde keine Erinnerung finden an die kleinen Bistros in der Stadt. An die hübschen, verschrobenen Läden. Nicht einmal eine Erinnerung an die Altstadt, die, nur durch eine Brücke mit dem Festland verbunden, auf einer Insel lag, von einer Mauer geschützt wie eine Festung. Denn Marie war nicht in Concarneau aufgewachsen. Es war eine grausame Lüge, die Michel ihr auftischte, wenn er ihr erzählte, wie glücklich sie hier gewesen sei. Mit ihm, mit ihrer schönen Mutter. In einer harmonischen kleinen Familie.
»Was soll ich denn tun? Wenn ich ihr die Wahrheit sage, packt sie sofort ihren Koffer und geht.«
»Das wird sie auch tun, wenn sie eines Tages herausfindet, dass du sie angelogen hast.«
Leon rührte in seinem schwarzen Kaffee und sah seinen Freund mitfühlend an. Er konnte nachvollziehen, dass Michel mit aller Macht versuchte, den Lauf des Schicksals zu ändern. Natürlich konnte er es nachvollziehen. Ãber die Jahre hinweg hatte er gesehen, wie sehr Michel darunter gelitten hatte, dass Monique ihn damals verlassen hatte. Mit der erst zweijährigen Marie. Er war ein gebrochener Mann gewesen, dessen Leben von einem Tag auf den anderen in Scherben gelegen hatte. Anfangs hatte er noch versucht, wenigstens mit Marie in Kontakt zu bleiben. Doch Monique hatte es nicht zugelassen.
»Meine Tochter soll mit einem Mann wie dir nichts zu tun haben«, hatte sie ihm unmissverständlich geschrieben. »Ein Feigling wie du hat in unserem Leben nichts zu suchen.«
Michel hatte das damals akzeptiert. Vielleicht auch, weil Leon ihm dazu geraten hatte.
»Du musst sie gehen lassen«, hatte Leon gesagt. »Du musst dieses Kapitel beenden. Wenn nicht, wirst du den Rest deines Lebens damit verbringen, hinter einem Traumbild herzujagen, das du nie erreichen kannst.«
Es hatte so plausibel geklungen damals. Es war das Beste, was er tun konnte. Jedenfalls das Beste für die kleine Marie. Sie würde aufwachsen ohne einen von Schuld zerfressenen Vater, den ihre Mutter einen Feigling nannte. Sie würde eine unbeschwerte und fröhliche Kindheit haben, ohne ihn. Und wahrscheinlich würde sie ihn auch gar nicht vermissen. Michel hatte aufgegeben. Hatte sein Leben gelebt. Ein Leben, das nur aus Arbeit bestand. Er hatte Leons groÃzügiges Geschenk angenommen, hatte aus dem kleinen, unscheinbaren Café du Port ein Gourmetrestaurant gemacht. Hatte sich mit wütender Entschlossenheit einen Stern erkocht. Und war dabei in seinem Innern seines Lebens nie mehr froh geworden. Aber war das nicht richtig? Hatte er das nicht verdient? Er, der Feigling, der es nicht gewagt hatte, die Wahrheit zu sagen, hatte er es nicht verdient, allein zu sein? In diesen langen, schlaflosen Nächten nur von der Erinnerung gequält. Von der Erinnerung an jenen vierten September, der den Wendepunkt nicht nur in seinem Leben bildete.
Leon trank seinen Kaffee und betrachtete seinen Freund nachdenklich. Seit er Marie zurückgebracht hatte, schien Michel ihm noch labiler, als er schon immer gewesen war. Leon wusste, dass Michel insgeheim hoffte, dass Marie ihr Gedächtnis nicht mehr zurückerlangen würde. Er wusste, dass Michel sich für diese Hoffnung zutiefst schämte. Sah er doch jeden Tag, wie sehr sich seine Tochter quälte. Würde Michel das auf Dauer aushalten? Oder würde er eines Tages zusammenbrechen und Marie alles erzählen?
»Du wirst dich ins Unglück stürzen, wenn du ihr alles erzählst. Und mich auch. Aber das werde ich nicht zulassen.« Leons leise Stimme war kalt. »Ich werde nicht zulassen, dass du mein Leben zerstörst, Michel.«
Die beiden Männer, die einmal die besten Freunde gewesen waren, sahen einander in die Augen.
»Vielleicht ist mir das egal. Dein Leben. Vielleicht ist mir das wirklich egal, Leon. Vielleicht geht es dieses Mal nur um mein Leben. Und um das von Marie.«
Michel war selbst überrascht über die Härte in seiner Stimme. So hatte er noch nie mit Leon gesprochen.
»Ich bin ein alter Mann, Leon. Ich habe nichts mehr zu verlieren. Aber ich habe eine winzige Hoffnung, etwas zu gewinnen. Und wenn ich das nur kann, in dem ich Marie endlich die Wahrheit sage, werde ich das tun.«
»Du wirst nur leider nichts davon haben, wenn du dann im Gefängnis sitzen wirst.«
Mit einem Lächeln stand Leon auf.
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