Wilde Wellen
es dieses Ding mit der Liebe wirklich gab. Verliebtsein, ja, natürlich, das kannte er. Schmetterlinge im Bauch. Verlangen. Gier. Das kannte er gut. Aber hatte eine der Frauen, mit denen er bisher zusammen gewesen war, sein Herz berührt? Das Herz war nichts anderes als ein Muskel. Um den zu berühren, würde man ihm die Brust aufschneiden müssen. Oder alles tun, dass das Herz nicht aufhörte zu schlagen?
Das ging Paul jetzt aber doch zu weit. Er wusste nicht, was mit ihm los war. Aber er wusste, dass die Richtung, in die seine Gedanken gerade gingen, ihm überhaupt nicht gefiel.
Er zog sich eine Jacke über und ging nach drauÃen. Um wie angewurzelt in der Tür stehen zu bleiben. Was der Vollmond aus dieser Septembernacht machte, nahm ihm die Luft. Ein weiÃer Lichtstrahl lag vom Horizont bis in die kleine Bucht unter Pauls Haus auf dem ruhigen Meer. Die alten, vom Wind gebeugten Kiefern, die den Weg zu seinem Haus säumten, warfen wirre Schatten. In der Ferne glänzte der Menhir von Kerloas, als wäre er mit Silber übergossen. Und über diesem zauberhaften Bild war der klagenden Ruf eines Käuzchens zu hören. Paul atmete tief durch. In solchen Nächten mussten die Geschichten um die Magie dieser Gegend entstanden sein, um die Zauberkraft der Druiden, um die geheimnisvolle Wirkung der Menhire. Er verstand, dass sich die Menschen damals in diesen hellen Vollmondnächten einerseits gefürchtet hatten, sich aber andererseits wie von einer groÃen, unbekannten Macht geführt glauben mussten. Was war nur mit ihm los? Er kam sich vor, als wäre er vom Regen der Gefühlsduselei geradewegs in die Traufe des Aberglaubens geraten. Das passte alles nicht zu ihm. Er war ein Mann der Ratio. Und das würde er verdammt noch mal auch bleiben. Es war wirklich an der Zeit, dass er nach Paris und zu Sara zurückkehrte. Bevor er hier noch ganz durchdrehte.
9
Während Caspar, der einfach nicht glauben konnte, dass Marie abgehauen war, ohne sich von ihm zu verabschieden, wütend und vergeblich an Michels Tür klopfte, um ihn nach Maries Telefonnummer zu fragen, schien seine Mutter Claire der einzige Mensch zu sein, der in dieser Nacht ruhig schlief. Es schien Leon immer, als könne Claire ihren Gedanken befehlen, sich aus ihrem Schlaf und aus ihren Träumen herauszuhalten. Wenn sie die Augen zumachte, fiel alle Anspannung und Nervosität von ihr ab. Entspannt lag sie in ihren weiÃen Kissen. So schön wie vor fünfundzwanzig Jahren, als er sie über die Schwelle in sein Schlafzimmer getragen hatte. Selbst die winzigen Fältchen, die sich im Laufe der Jahre um ihre Augen eingefunden hatten, schienen wie weggebügelt, wenn sie schlief. Sie war eine perfekte Schönheit mit ihren klassischen Zügen, den wunderbaren hellen Augen, dem ausdrucksstarken Mund. Jeder griechische Bildhauer hätte seine Freude an ihr gehabt. Jetzt schlug sie die Augen auf. Und als sie seinen Blick sah, der auf ihr lag, streckte sie lächelnd die Arme nach ihm aus.
»Komm zu mir.« Sie zog ihn an sich. Und Leon konnte ihr nicht widerstehen. Sie liebten sich zärtlich wie immer. Und wie so oft fragte sich Leon, ob er diese Frau wirklich verdient hatte.
»Du musst Caspar in der nächsten Zeit gehörig einspannen.«
Leon unterdrückte einen Seufzer. Manchmal hatte er wirklich das Gefühl, dass es keine Minute am Tag gab, an dem Claire nicht an ihren Sohn dachte. Hatten sie sich nicht gerade geliebt wie ein junges Paar? Hatte er sie nicht gerade befriedigt? Wieso war sie nicht wenigstens in so einem Moment ganz bei ihm?
»Du weiÃt doch, dass er sich in Marie verliebt hat. Er wird traurig sein, dass sie wieder weg ist.«
Mein Gott, er liebte seinen Sohn wirklich, aber hatte der Liebeskummer des Jungen wirklich eine derartige Bedeutung, dass Claire ihn bis in ihr gemeinsames Bett mitnehmen musste?
»Arbeit ist die beste Ablenkung. Spann ihn einfach richtig ein, ja?«
Sie stand auf und schenkte sich ein Glas Wasser aus der Kristallkaraffe ein, die immer auf dem kleinen Biedermeiertisch am Fenster stand. Das Mondlicht beleuchtete ihren Körper, ihre weiÃe Haut strahlte geradezu überirdisch.
»Komm zurück ins Bett.«
Doch sie zog sich den seidenen Kimono an, den er ihr zum letzten Geburtstag geschenkt hatte, und setzte sich in einen der tiefen Sessel.
»Du hast mir noch gar nicht erzählt, wie er sich macht.«
»Gut. Er
Weitere Kostenlose Bücher