Wilde Wellen
eine gute Mutter geworden, wenn die Dinge anders gelaufen wären. Wenn der Mann, den sie bis zur Selbstaufgabe liebte, frei für sie gewesen wäre.
»So, fertig für heute. Pass ein bisschen auf dich auf. Und halt deinen Rücken warm.«
Sie ging zum Waschbecken, um sich die Hände zu waschen, während Claire sich anzog. Wieso war Claire zu ihr gekommen? Ihr Rücken war vollkommen in Ordnung. Céline hatte keinerlei Verspannungen spüren können.
»Du hast mir den Tag gerettet, meine Liebe. Ich danke dir.«
Claire küsste Céline auf die Wange. Auch das tat sie nicht oft. Sie waren zwar irgendwie befreundet, aber es bestand doch immer eine gewisse Förmlichkeit zwischen ihnen. Wie es sich wahrscheinlich gehörte zwischen der Frau des Chefs und seiner Sekretärin.
»Ich muss los. Ich will mir das Vorlesungszeichen für das neue Semester an der Uni holen. WeiÃt du, ich überlege mir, ob ich mich nicht als Gasthörerin einschreiben soll. Sie haben da einen neuen Dozenten an der Fakultät für Archäologie. Er hält Vorlesungen über die Menhire. He, wäre das nicht auch was für dich? Paul Racine, vielleicht hast du von ihm gehört. Er hat einige wichtige Bücher geschrieben.«
Céline sah sie verblüfft an.
»Ich wusste gar nicht, dass du dich für Archäologie interessierst.«
Claire beobachtet Céline scharf. War da wirklich kein Zusammenzucken? Keine Irritation, als sie Pauls Namen erwähnt hatte? Es sah so aus, als ob ihr der Name Paul Racine wirklich nichts sagte. Oder war sie nur eine gute Schauspielerin? Immerhin hatte sie sich nie in ihr Herz blicken lassen. Und nie etwas von sich erzählt. Dass Claire von der Existenz Paul Racines erfahren hatte, war ein absoluter Zufall gewesen. Dass er sich nun allerdings in der Nähe seiner Mutter herumtrieb, beunruhigte sie sehr. Selbst wenn Céline noch nicht wusste, wer er war â es würde doch nur eine Frage der Zeit sein, bis die beiden aufeinandertrafen. Hier in ihrer kleinen Welt des Finistère.
14
Was hat er dir angetan, Maman? Es musste etwas Furchtbares gewesen sein, denn sonst hätte Monique ihren Exmann nicht so gänzlich aus ihrem Leben verbannt. Sie war so geduldig gewesen mit ihren Mitmenschen, ungeheuer tolerant und verständnisvoll. Wenn es nur so etwas wie eine »lässliche Sünde« gewesen wäre, hätte sie Michel doch sicher irgendwann vergeben. Hätte es zumindest zugelassen, dass Marie sich eine eigene Meinung über ihren Vater bildete. Es verunsicherte sie mehr als sie sich eingestehen wollte, dass sie Michel Dumont in den Tagen im Krankenhaus und in der Bretagne als einen so liebevollen, aufmerksamen, mitfühlenden Menschen kennengelernt hatte. Er konnte das doch nicht gespielt haben.
Meinst du, er hat sich geändert? Menschen ändern sich tatsächlich, Maman. Die lächelnde Frau auf dem Foto würde ihr keine Antwort geben. Wieso konntest du ihm nicht vergeben?
Marie hatte als kleines Mädchen hin und wieder nach ihrem Vater gefragt, es dann aber aufgegeben. Sie brauchten ihn nicht, ihre Mutter und sie. Sie waren sich immer selbst genug gewesen. Nicht einmal, als Monique gestorben war, hatte Marie das Bedürfnis gehabt, nach ihrem Vater zu suchen, dem einzigen Verwandten, den sie noch hatte. Wieso konnte sie jetzt nicht aufhören, an ihn zu denken? Könnte es sein, dass Paul recht hatte? Dass sie Michel wenigstens anhören sollte? Ihre Mutter hatte sie dazu erzogen, sich eine eigene Meinung zu bilden, nicht auf andere zu hören. Galt das auch für ihren Vater? Sie hasste es, plötzlich so verunsichert zu sein. Alles war klar gewesen, als sie so wütend aus Concarneau abgereist war. Wieso zweifelte sie nun? Oder war es etwas ganz anderes, was sie darüber nachdenken lieÃ, noch einmal zurück in die Bretagne zu fahren? Diese Sehnsucht, die sich in ihr aufbaute wie eine groÃe Welle. Die Sehnsucht nach dem Mann, der ihr das Leben gerettet hatte.
Ich bin keine Indianerin, basta. Es war alles romantischer Quatsch. Es konnte nichts anderes sein als romantischer Quatsch. Sich in jemanden zu verlieben, der zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen war. Jeder andere hätte dasselbe getan wie Paul Racine. Aber es war nicht jeder andere gewesen. Es war dieser Mann gewesen mit dem intensiven, mitfühlenden Blick. Dessen Kuss ihr in die Glieder gefahren war. Und wenn
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