Wilde Wellen
mir, Céline? Ich dachte, du kennst Paul Racine nicht. Und dabei hast du ein Date mit ihm?«
»Ich habe kein Date. Und ich kenne ihn auch nicht. Er will mich treffen. Wahrscheinlich hat er ein Problem, bei dem ich ihm helfen soll.«
Céline wollte nicht zugeben, wie sehr sie dieser Anruf verwirrte. Diese Stimme. Sie war sich sicher, dass sie sie noch nie gehört hatte. Und doch war da etwas, das ihre Nerven zum Vibrieren brachte.
Wieder gab ihr Claire einen Abschiedskuss. Wieder war Céline von der ungewohnten Intimität überrascht.
»Nimm die Gladiolen, meine Liebe. Leon wird sich freuen.«
Damit ging sie zu ihrem Auto und fuhr davon. Céline sah ihr einen Moment nach, bevor sie die Gladiolen aussuchte. Das leise Unbehagen, das sich in ihr ausbreitete, versuchte sie nicht zu beachten.
Viertes Buch â
DER UNFALL
1
Paul war den ganzen Tag nervös gewesen. Er hatte versucht, seine Notizen, die er sich über die Aufstellungsorte der Menhire in der Bretagne gemacht hatte, zu ordnen, wollte sie vergleichen mit seinen Erkenntnissen, die er über die Steinmale in Asien gewonnen hatte. Doch seine Gedanken schweiften dauernd ab. Er schrieb das dieser wundersamen Nacht zu, die er mit Marie verbracht hatte. Wie ein Teenager freute er sich darauf, sie heute Abend nach der Begegnung mit Céline wiederzusehen. Eigentlich hätte er das Treffen mit Céline am liebsten verschoben. Es zog ihn nicht zu ihr. Er musste sie nicht unbedingt sehen. Ganz im Gegensatz zu Marie. Die wollte er sehen. Und spüren. Am liebsten hätte er den ganzen Tag mit ihr im Bett verbracht. Aber Marie hatte gelacht.
»Wir haben so viel Zeit. Wir müssen uns nicht benehmen wie Teenager.« Sie hatte ihm versprochen, heute Abend, wenn er zurückkam, da zu sein. Sie wollten zusammen kochen. Essen. Trinken. Reden. Es gab so viel, über das sie reden mussten. Oder vielleicht auch gar nichts. Sie waren zusammen, und das war gut so. Als er ein und denselben Satz zum vierten Mal gelesen hatte, ohne zu wissen, was darin stand, hatte er sein Notebook eingepackt und war losgefahren. Er wollte das Menhirfeld noch einmal vermessen. Vielleicht würde ihn diese Arbeit vor Ort von seiner Sehnsucht ablenken.
Xavier Leonard, der Schäfer, hatte den jungen Wissenschaftler schon ein paarmal beobachtet, als er sich an den Menhiren zu schaffen machte. Er hatte gesehen, dass Paul fotografierte. Und die Abstände zwischen den Steinen vermaÃ. Dann die Messergebnisse in das Notebook eintrug, das er stets bei sich hatte.
Paul war verblüfft, als er im Visier seines Messgeräts eine kleine Gruppe Schafe erkannte. Er hob den Blick. Tatsächlich, das grasten die Tiere zwischen den Steinen. Zwei Hunde umkreisten sie ständig.
»Sie lieben die Pflanzen, die zwischen den Steinen wachsen.«
Paul fuhr herum. Er hatte nicht bemerkt, dass der Schäfer näher gekommen war. Das alte Gesicht des Mannes sah ihn freundlich an.
»Sind das Ihre Schafe?«
»Sie mögen die Kräuter hier. Schmecken intensiver. Auch das Gras, das zwischen den Steinen wächst, ist saftiger.« Als der Schäfer lächelte, legte sich sein Gesicht in tausend Falten.
»Das Phänomen ist mir schon ein paarmal begegnet. Sogar in Asien. Die Weisen dort behaupten, es gehe eine besondere Strahlung von den Steinmalen aus.«
»Ich lasse sie gern in der Nähe der Menhire fressen. Ihre Wolle ist dann dichter. Und sie haben weniger Krankheiten.«
Paul war mit diesem Phänomen tatsächlich bereits vertraut. Die Weisen in Asien behaupteten, es läge daran, dass die Steine auf heiligem Boden stünden. Der Schäfer trank einen kleinen Schluck aus einer kleinen Flasche, die er aus seinem weiten grauen Mantel zog, und reichte sie dann Paul. Der zögerte nicht, einen Schluck zu nehmen. Und war erstaunt, dass ihm nicht einer dieser rauen Schnäpse durch die Kehle rann, die so mancher Bauer hier aus wilden Ãpfeln und Schlehen brannte, sondern dass die Flüssigkeit, die ihm der Schäfer anbot, von einer einschmeichelnden Sanftheit war.
»Trockenbeerenschnaps. Ich bekomme ihn von Céline. Im Herbst, wenn die letzten Trauben geerntet sind, brennt sie immer ein paar Liter aus den getrockneten Trauben, die keiner von den Weinstöcken genommen hat.«
»Schmeckt gut. Und diese eigenartige Konsistenz, wie Honig â¦Â«
Als der Schäfer die Flasche wieder in seinem Mantel verstaute und seinen
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