Wilde Wellen
durcheinanderbringen. Es wäre einfach nur egoistisch von dir, wenn du ihre Entscheidung nicht akzeptieren würdest.«
Dachte er wirklich nur an sich? Ging es ihm wirklich nur darum, sich endlich von seiner Schuld reinzuwaschen? Würde er danach endlich wieder schlafen können? Würde sein Leben endlich ruhig werden?
»Mach keinen Fehler, Michel. Ich bin mir sicher, du würdest es bereuen.«
Leon ging in die Nacht hinaus. Er hatte gesagt, was zu sagen war. Er hatte getan, was er tun konnte. Der Rest lag bei Michel. Er konnte nur hoffen, dass er sich nicht von seinen Gefühlen hinreiÃen lieÃ.
Michel zerriss das Foto in kleine Fetzen und lieà sie in den Papierkorb fallen. Dieses kleine wunderbare Mädchen, das auf dem Foto so fröhlich in die Kamera lachte, war schon lange kein Teil seines Lebens mehr. Er hatte das doch immer akzeptiert. Marie war glücklich ohne ihn. Sie hatte ihn nicht gebraucht. Und sie würde ihn auch in Zukunft nicht brauchen. Als er sich auf sein schmales Bett legte und auf eine weitere schlaflose Nacht wartete, sandte er einen Abschiedsgruà an Marie in die Nacht. Pass auf dich auf, dachte er. Ich werde dich nicht vergessen. Aber ich werde es ertragen, wenn du mich vergisst.
13
Paul war die Nacht durchgefahren und wollte in sein Büro in der Uni gehen. Er musste sich auf seine Vorlesung vorbereiten, die am Montag beginnen würde. Und er wollte endlich mit seiner Forschungsarbeit beginnen, wegen der er die Stelle hier ja bekommen hatte. Nur noch schnell einen Kaffee im Bistro an der Ecke, dann würde er sich endlich auf seine Arbeit konzentrieren. Er lieà sich zwei Croissants einpacken und holte sich beim Kiosk die Tageszeitungen.
»Oh, entschuldigen Sie, ich hab Sie nicht gesehen.« Es war ihm peinlich, dass er die elegante Frau, die gerade aus ihrem Auto stieg, übersehen hatte.
»Kein Problem, ich war auch in Gedanken.«
Sie sahen sich an. Lächelten sich entschuldigend zu und gingen ihrer Wege. Eine kleine unbeabsichtigte Rempelei, wie sie schon mal vorkommen konnte, wenn man nicht aufpasste.
Paul hatte sie im Bruchteil einer Sekunde vergessen.
Claire nicht. Dieser Mann war Paul Racine. Ihr Herz schien ein paar Schläge lang auszusetzen. Das war doch vollkommen unmöglich. Raul Racine lebte in Paris, das wusste sie. Was tat er hier? Oder war er es doch nicht? Vermutlich hatte sie sich das nur eingebildet.
»Einen Moment, Monsieur.« Sie musste wissen, ob sie sich getäuscht hatte.
Paul drehte sich um. Sollte er die attraktive Frau, mit der er gerade zusammengestoÃen war, kennen?
»Madame?«
»Ãhm ⦠entschuldigen Sie, ich dachte gerade ⦠Sind Sie tatsächlich Paul Racine?«
Paul sah sie fragend an. Und nickte.
»Es tut mir leid, ich erinnere mich nicht â¦Â«
»Nein«, lachte Claire. »Machen Sie sich keine Gedanken; Sie müssen mich nicht kennen. Ich habe Ihr Foto in der Zeitung gesehen. Die Universität ist ja mächtig stolz, Sie gewonnen zu haben. Wissen Sie, die Archäologie ist quasi so was wie ein Hobby von mir. Ich habe einige Ihrer Artikel gelesen.«
Paul fühlte sich geschmeichelt. Es kam nicht oft vor, dass er auf der StraÃe erkannt wurde. Sehr groà war das Interesse der Leute an seiner Forschung nun wahrlich nicht.
»Ich will Sie nicht aufhalten, ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich es schön finde, dass Sie nach Brest gekommen sind. Ein bisschen wissenschaftlicher Glanz tut unserer kleinen Uni gut.«
»Das ist nett, dass Sie das sagen. Ich hoffe, ich sehe Sie in einem meiner Vorträge, Madame â¦Â«
»Oh, entschuldigen Sie, ich bin Claire Menec. Wie gesagt, ich bin ein Fan von Ihnen.«
Sie lächelte, nickte ihm zu und ging davon.
Claire Menec? Konnte es sein, dass sie die Frau von Leon Menec war, dessen Sekretärin seine Mutter war? Die Welt ist klein, dachte er und schüttelte sofort den Kopf über diese Binsenweisheit. Aber hier im Finistère war die Welt wahrscheinlich wirklich sehr klein. Die Menschen hatten alle etwas miteinander zu tun. Also war es gar kein so merkwürdiger Zufall, dass ihm an diesem Morgen die Frau von Leon Menec über den Weg gelaufen war.
Claire war nur ein paar Schritte weitergegangen. Als sie sich sicher war, dass Paul Racine sie nicht mehr sehen konnte, blieb sie stehen. Ihr Atem ging jetzt schnell. Sie presste eine Hand auf ihr Herz, um sich zu beruhigen. Paul Racine war in
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