Wilder als Hass, süsser als Liebe
Pinsel, tauchte ihn in das Surma und bestrich ihre gesenkten Lider mit der kühlen Paste.
Endlich konnte sie ihr Spiegelbild zufrieden mustern. Sie sah wie eine geheimnisvolle Mischung aus Ost und West aus, keinesfalls provokativ, aber auch überhaupt nicht bieder.
Dann war sie bereit, ihrem Gemahl entgegenzutreten.
Kapitel 4
EINE STUNDE NACH Sonnenuntergang geleitete ein höflicher junger Mann, der sich auf leisen Füßen fortbewegte, ROSS zu der Kammer, wo er mit Juliet essen sollte. Das Zimmer, das durch mehrere Lampen beleuchtet wurde, wirkte wie ein Arbeitszimmer, das zeitweilig zu einem Speisezimmer im westlichen Stil umfunktioniert worden war. Im Orient war es Brauch, auf dem Boden oder auf dicken Kissen um einen niedrigen Tisch herum zu sitzen, doch in diesem Zimmer stand ein Holztisch, über den man ein Leinentuch gedeckt und darauf silberne Teller und Besteck im europäischem Stil plaziert hatte.
Der Diener verbeugte sich und ließ ROSS allein. Es machte ihm nichts aus, denn er fand es interessant, in Ruhe seine Umgebung zu mustern, die ihn entfernt an sein eigenes, recht unkonventionelles Arbeitszimmer zu Hause in England erinnerte.
Neben ungewöhnlichen Stücken von Töpfereien und Figuren entdeckte er Bücher und Schriftrollen in gut einem halben Dutzend verschiedener Sprachen. Einige der asiatischen Texten kamen ihm so fremdartig vor, daß sie seine Wißbegierde weckten.
Einen Augenblick fragte er sich, ob es eine geringe Möglichkeit gab, daß Juliet ihm einige davon lieh, oder ob er lange genug bleiben könnte, um seine
eigenen Übersetzungen zu machen. Doch dann erinnerte er sich wieder an seine Mission, und er zügelte seine Begeisterung. Er mußte erst lebendig aus Buchara zurückkehren, bevor er sich irgendwelche Bücher leihen konnte. Noch interessanter waren Juliets eigene Karten und Notizen, in denen sie sorgfältig ihre Beobachtungen über Land und Leute eingetragen hatte. Es gab mehr als ein Dutzend Notizbücher, und er überflog ein paar davon. Scharfsichtig und ironisch, wie die Tagebücher geschrieben waren, wären sie in London ein großer Erfolg gewesen, wenn man sie unter einem Titel wie Persische Reisen einer englischen Lady veröffentlichen würde. Sie boten ebenfalls einen interessanten Einblick in die Seele der Frau, zu der seine ehemalige Braut geworden war.
Er nahm das letzte Buch in die Hand, öffnete es an irgendeiner Stelle und blickte auf die scharfe eckige Handschrift Juliets, die dort geschrieben hatte: »Ich wünschte, ich hätte ROSS Carlisle niemals getroffen.«
Sein Herz zog sich zusammen, als wäre ein Eiszapfen hineingefahren. Er klappte das Buch heftig zu und stellte es wieder in das Regal zurück. Dann stand er fast reglos da und holte tief Atem, um die aufkommende Übelkeit niederzukämpfen. Also hatte sie immer schon ein Tagebuch geführt, um ihre Beobachtungen festzuhalten, und - typisch für sie - war sie auf den Seiten sehr offen und ehrlich gewesen.
Freudlos musterte ROSS den fachmännisch gebundenen Lederrücken des Tagebuchs. Vermutlich befanden sich all die Antworten, was in ihrer kurzen Ehe fehlgelaufen war, in diesem Buch - und er hatte nicht den Mut, es zu lesen. Bei dem Geräusch sich nähernder Schritte wandte er sich um und zwang sich zu einer gelassenen Miene, als würde er in seiner eigenen Bibliothek herumwandeln. Dann schob Juliet den Türvorhang zur Seite - und er erstarrte. Sie hatte immer schon einen Hang zum Unerwarteten gehabt, und nun tat dieses verdammte Weib es wieder. Am Nachmittag hatte sie in ihrer Tuareg-Kleidung wie eine Kriegsherrin ausgesehen. Und nun, gekleidet wie eine Mischung aus Anstandsdame und türkischer Tänzerin, war sie von Kopf bis Fuß Frau.
Sie blieb einen Moment im Türrahmen stehen und blickte ihn unsicher an. »Guten Abend, ROSS. Verzeih mir meine Verspätung.«
»Schon gut«, erwiderte er leichthin. »Ich habe schon angenommen, daß du entweder durch irgend etwas Un-vorhergesehenes aufgehalten worden bist oder dir das orientalische Zeitgefühl angeeignet hast.«
»Ein bißchen von beidem, glaube ich.«
Als sie eintrat musterte er ihr Gesicht und verglich es mit dem aus der Vergangenheit. Die runden Züge der Jugend waren schmaler geworden, die Wangenknochen traten stärker hervor. Juliet würde niemals auf die weiche, hilflose, feminine Art hübsch sein, die viele Männer so mochten. Statt dessen war sie von einer verwirrenden Schönheit.
Während sie mit einer Hand zum Tisch deutete, sagte sie: »Ich
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