Wilder als Hass, süsser als Liebe
die es ihm möglich machen würde, sie zu vergessen und sich rasch zu erholen.
Aber er hatte sich nicht wirklich erholt. Weshalb sonst hätte er sonst bemerken sollen, daß er weder die Lust noch den Optimismus dazu besäße, eine andere Frau zu l nehmen? Als sie geheiratet hatten, hatte er die Lust und den Optimismus für alles besessen. Vielleicht hätte sie ei- j nen tödlichen Unfall inszenieren sollen, statt einfach da- | vonzulaufen. Wenn sie gestorben wäre, hätte ROSS ihren Tod anständig betrauern und dann sein Leben wieder in Angriff nehmen können.
Aber sie war davongelaufen und hatte fast sofort erkannt, daß sie vom Regen in die Traufe geraten war. Verschreckt und einsamer als je zuvor, wäre sie glücklich mit ROSS nach Hause zurückgekehrt, wenn er ihr nur hinterhergekommen und sie geholt hätte. Aber er war nicht gekommen, und kurz darauf hatte sie jenen vernichtenden Fehler begangen, der jede Chance auf seine Vergebung ein für alle Male zerstört hatte.
Juliet frage sich, was für schmutzige Geschichten wohl England erreicht hatten - vermutlich Gerüchte über wilde Orgien, an denen sie teilgenommen hatte oder etwas Ahn- l liches. Natürlich waren sie nicht wahr, aber sie hatten
wohl gereicht, um ROSS zu der Überzeugung zu bringen, daß sie es nicht wert war, hinter ihr herzujagen.
Eine andere Sache, die sie bis zu diesem Abend nicht wirklich begriffen hatte, war, wie sehr es seinen Stolz verletzt haben mußte, von seiner Frau verlassen worden zu sein. Ein zurückgezogener Mensch wie ROSS mußte es ja verabscheuen, Mittelpunkt von Klatsch und Tratsch zu werden. Für sie war es leichter gewesen, da sie die respektable Gesellschaft hinter sich gelassen hatte. Sie war nicht mit vielsagenden höhnischen Blicken von Bekannten konfrontiert worden.
Wie mochte er nun über sie denken - oder für sie empfinden?
ROSS hatte heute abend mit ihr schlafen wollen, oder hatte er sie nur aus reiner Neugier geküßt? Sie nahm an, daß es so oder so auf das eine hinauslief. Wenn sie nun in sein Zimmer ginge und unter seine Decke glitt, würde er sie wahrscheinlich in seine Arme ziehen, denn es sah so aus, als fände er sie immer noch attraktiv.
Es wäre sicher nicht dieselbe Leidenschaft wie damals, als sie sich geliebt und vertraut hatten, doch es würde wahrscheinlich dennoch körperlich ausgesprochen befriedigend werden.
Wie schade, daß sie ihren Körper nicht von ihren Gefühlen trennen konnte! Körperliche Nähe mit ihm war nur auf Kosten emotionaler Vernichtung möglich. Wenn sie und ROSS wieder zu Liebhabern wurden, würde sie das Ende dieser Affäre nicht überleben. Und ein Ende würde sie zweifellos haben, da die Probleme nicht beseitigt waren.
Erst jetzt bemerkte Juliet, daß sie sich auf der Seite zusammengerollt hatte und ihr Kissen wie etwas Lebensrettendes an ihre Brust preßte. Ein Zipfel war feucht von Tränen. Mit einem tiefen Atemzug legte sie sich auf den Rücken und zwang sich, zu entspannen.
Sie mußte sich unter Kontrolle halten, oder die Reise nach Buchara würde katastrophale Auswirkungen haben.
Um die Strecke durchzustehen, würden ROSS und sie sehr effektiv und ohne Zweifel oder Vorwürfe zusammenarbeiten müssen. Sie durfte ihn nicht wie einen liebeskranken Blaustrumpf bejammern, sondern mußte alles tun, was nötig war, um ihn zu unterstützen.
Und lan, wenn er noch lebte. Und wenn sie wieder sicher und gesund in Serevan waren, mußte sie die Würde und die Weisheit aufbringen, ihren Mann einmal mehr gehen zu lassen.
Kapitel 6
AM NÄCHSTEN MORGEN wachte ROSS aus seinem unruhigen Schlaf auf und fühlte sich wie der Überlebende eines Schiffbruchs. Aber er hatte überlebt, und verglichen damit, sich seine eigenen Makel einzugestehen und sich ihnen zu stellen, würde es ein leichtes sein, dem Emir von Buchara gegenüberzutreten.
Er hatte sich gerade angezogen, als ein Diener eintrat und ihn zum Frühstück rief. ROSS folgte ihm widerwillig, grübelnd, ob man ihn zu Juliet bringen würde, doch zu seiner Erleichterung saß nur der alte Usbeke, der offenbar eine Art Aufseher Serevans war, an dem niedrigen Tisch des sonnendurchfluteten Eßzimmer.
Der Usbeke trug einen weißen Turban und eine leuchtend gemusterte Robe aus dem gewebten Seidenmaterial, das man ikat nennt. Als ROSS den Raum betrat, neigte er höflich den Kopf zum Gruß.
»Salam aleikum, mein Herr«, sagte er mit den traditionellen Worten, die Frieden wünschten. »Ich bin Saleh, demütigster Diener von Gul-i
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