Wilder als Hass, süsser als Liebe
halbes Jahrhundert gealtert.
Mit gewaltiger Anstrengung begann er, den vertrauten Prozeß der Distanzierung zu aktivieren, die ihm erlauben würde, wieder vernünftig zu funktionieren. Er war sehr talentiert darin, sich geistig von seinen Emotionen zu lösen, und bald hatte er sie weit genug beiseite geschoben, um eine Art Bewunderung für Juliets konsequente Gründlichkeit zu empfinden. Mit nur sehr wenigen Worten war es
ihr gelungen, ihn nicht nur in der Gegenwart zurückzuweisen, sondern auch alles zu leugnen, was sie in der Vergangenheit besessen hatte. Eine wirklich effiziente Frau, seine Juliet.
Mechanisch löschte Ross alle Lampen außer einer aus, nahm diese letzte und verließ das Arbeitszimmer. Obwohl er sich alles genau angesehen hatte, als man ihn zum Essen geleitet hatte, konnte man sich leicht verlaufen, und es kostete ihn einige Zeit, um den Weg zurückzufinden. Während er die langen, kargen Korridore des alten Palastes entlangging, beschäftigte sich der gelehrte, organi-sierte Teil seines Verstandes eifrig damit, die Ereignisse zu analysieren.
Obwohl ihm die Sehnsucht nach fernen Ländern durchaus angeboren zu sein schien, wußte Ross, daß ein Grund für seine rastlosen Fahrten die vage Hoffnung war, daß er Juliet eines Tages wiederfinden würde. Nicht unbedingt aus Liebe, schon gar nicht aus Haß, sondern eher durch das zehrende Gefühl der Unvollständigkeit, das sie zurückgelassen hatte.
Heute hatte er sie durch reinen Zufall gefunden, und als Ergebnis hatte sich die Tür zur Vergangenheit unwider-bringlich geschlossen. Unsinnigerweise hatte er im stillen geglaubt, sie wäre vielleicht aus einem Impuls heraus weggelaufen und hätte einfach nicht gewußt, wie sie wieder nach Hause kommen sollte. Und wenn sie sich wiedertreffen würden, hätte es vielleicht eine Chance gegeben, noch einmal neu zu beginnen.
Nun war diese schwache, niemals ganz eingestandene Möglichkeit gestorben. Aus. Vorbei. Als er schließlich sein Zimmer erreichte, war Ross soweit, mit einem quälenden Verdacht zu kämpfen, den er gerne weit von sich weisen wollte, es aber nicht konnte: Daß ihm die Fähigkeit fehlen konnte, die Liebe einer Frau zu erwecken oder zu erhalten.
Er konnte lieben und von Familie und Freunden geliebt werden, aber was immer es brauchte, um eine tiefe Beziehung zwischen Mann und Frau zu entwickeln, schien ihm abzugehen.
Durch seine hohe Geburt und sein Vermögen wäre es ROSS nie schwergefallen, eine Frau, die ein langweiliges Gesellschaftsmäuschen darstellte, zu finden und zu halten. Aber ROSS wollte mehr als das - er hatte sich immer eine Frau gewünscht, die sein Gegenstück war, eine Gefährtin in jeder Situation. Seine Eltern hatten eine solche Partnerschaft, und er hatte das für normal gehalten, bis er begonnen hatte, mehr von der Welt zu sehen. Da hatte er erkannt, wie viele verschiedene Formen der Ehe es gab. Und die meisten davon gefielen ihm gar nicht.
Es hatte nur zwei Frauen gegeben, mit denen er sich eine Ehe vorstellen konnte. Die eine davon war seine Cousi-1 ne Sara. Als sie Kinder gewesen waren, hatte er sie immer als seine zweite Hälfte betrachtet, sie hatte in ihm jedoch nie mehr als eine Art Bruder gesehen.
Anfangs war Juliet anders als Sara gewesen. Im Glauben, ihn zu lieben, hatte sie sich ihm mit absolutem, unkritischem Vertrauen hingegeben. Für ROSS war ihre Nähe • wie eine Droge und ein unglaubliches Geschenk gewesen, genau so, wie er es sich immer erhofft hatte. Doch dann, nach einigen Monaten, hatte sich alles verändert. Ihre angeborene fröhliche Natur war plötzlich gedämpft gewesen, und sie hatte ihn mit verlorenen, traurigen Augen angesehen.
Er hatte gewußt, daß etwas nicht stimmte, aber er hatte nicht erkannt, daß ihre Liebe zu ihm erstarb. Oder vielleicht hatte Juliet ihn niemals wirklich geliebt: Einmal war er davon überzeugt gewesen, aber nachdem sie ihn verlassen hatte, war er sich nie wieder ganz sicher gewesen.
Sie hatten zu streiten begonnen, gewöhnlich über die Reise in den Mittleren Osten, die sie planten. Juliet war so begierig gewesen, abzureisen, aber ROSS hatte gezögert, weil sein heißgeliebter Pate krank war. Sie hatte ihm scharfzüngige Kommentare über seine Verzögerungstaktiken an den Kopf geworfen, wahrscheinlich weil sie befürchtet hatte, sie würde letztendlich doch nicht reisen. Dann hatte er den Fehler gemacht, seinen Paten zu besuchen, wobei er Juliet zu Hause ließ, weil es ihr angeblich nicht gutging. Als er
Weitere Kostenlose Bücher