Wilder als Hass, süsser als Liebe
zurückgefallen war.
ROSS hatte sich einmal mit Muhammad Käsern unterhalten und hatte die Mischung aus ruhiger Würde und Verschmitztheit außer-ordentlich angenehm gefunden.
Als der alte Mann nur noch eine Armeslänge von dem sicheren Ufer entfernt war, bemerkte ROSS, daß er den Atem ausstieß, den er unwillkürlich angehalten hatte. Doch plötzlich - nur noch Zentimeter von den helfenden Händen entfernt - stolperte Kasems Esel und stürzte, wobei er seinen Reiter mit sich ins Wasser zog.
Zur gleichen Zeit schwappte eine weitere Welle durch das Fluß-
bett und wälzte sich donnernd heran. Im Handumdrehen war der Wasserstand über Menschenhöhe angestiegen.
Der schrille Angstschrei des Händlers war im Donnern der Fluten kaum zu hören. Sein Turban war fortgerissen worden, und sein rasierter Schädel wirkte beängstigend verletzlich in den schwarzen wirbelnden Wassermassen. Dann zog ein Strudel ihn unter die Oberfläche, und ein kollektiver Seufzer ertönte aus der Menge der hilflosen Zuschauer.
»Vater!« Der furchtbare Schrei kam von einem Mann, der am Rand des Ufers hockte, und aus seiner verzweifelten Miene schloß ROSS, daß er wie die meisten Wüstenbewohner nicht schwimmen konnte. Wahrscheinlich hätte er sich jedoch trotzdem in die Fluten gestürzt, Wenn zwei andere Männer ihn nicht rechtzeitig gepackt hätten. Niemand sonst versuchte, Muhammad Käsern zu helfen, nicht einmal, indem nach einem Seil zum Werfen gesucht wurde.
Ein Händler neben ROSS sagte traurig: »Es ist Allahs Wille.«
»So soll es sein«, stimmte ein anderer hinzu. »Gesegnet sei der Name Allahs.«
ROSS erkannte, daß dies einer der Momente war, wo sich der orientalische Fatalismus nicht mit dem westlichen Tatendrang vereinbaren ließ. Noch während er dies dachte, sprintete er bereits das Ufer entlang und stieß andere Karawanenmitglieder grob beiseite. Er hätte es vorgezogen, keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, aber er konnte unmöglich dastehen und zusehen, wie jemand ertrank, den er vielleicht noch retten konnte.
Der Esel hatte sich bis auf trockenen Boden gestrampelt und schüttelte nun das Wasser aus Fell und Mähne heraus, doch der Strom hatte seinen Reiter in die Mitte des gefluteten Bettes gezogen. ROSS zögerte nicht, sondern handelte rein instinktiv.
Hastig riß er sich Messer, Überkleidung und Stiefel vom Leib und ließ sie fallen. Er hatte keine Lust, durch irgendeinen Ballast am Leib im Wasser unter die Oberfläche gezogen zu werden.
Schließlich sprang er in den Fluß und tauchte mit kraftvollen Zügen unter. Das Wasser war kalt und reißend, aber er hatte das Schwimmen in der Nordsee gelernt, und seine kräftigen Armbewegungen brachten ihn schnell dorthin, wo er den Händler zum letzten Mal gesehen hatte.
Da der alte Mann wieder untergegangen war, mußte ROSS
abtauchen und in dem salzigen, schmuddeligen Wasser, durch das er kaum sehen konnte, nach dem Körper tasten. Er ließ sich vom Strom treiben und mußte zweimal zum Luftholen wieder auftauchen, bis seine Finger festen Stoff fanden. Er packte richtig zu, dann stieß er sich nach oben.
Einen Moment lang trieb Muhammad Käsern auf dem Wasser wie tot, sein Gesicht bläulich weiß und wächsern. Doch dann öffnete er die Augen und begann zu husten.
ROSS’ Erleichterung war jedoch nur von kurzer Dauer, denn der wieder erwachte Händler begann nun in wilder Panik um sich zu schlagen und zu treten. Ein Hieb traf ROSS im Magen, und er mußte nach Atem ringend. Bevor er sich wieder erholt hatte, schlang der andere Mann die Arme um den Hals seines Retters und zog ihn mit sich in die Tiefe.
Mit brennenden Lungen kämpfte ROSS, um Muhammad Kasems würgendem Griff zu entkommen. Als er das schmutzige Wasser schluckte, dachte er einen Augenblick, daß dies das Ende war. Er würde hier - mitten in Zentralasien und vor Juliets Augen -
jämmerlich ertrinken.
Nein! Mit so einem Bild darf ich sie nicht zurücklassen, dachte er, und der Gedanke verlieh ihm neue Energie, mit der er sich aus dem tödlichen Griff des Händlers winden konnte. Während er sich an die Oberfläche kämpfte, drehte er den Körper des Mannes um und machte ihn mit einem Arm über der Brust bewegungslos.
Wieder durch die Oberfläche zu stoßen, war so ein segensreiches Gefühl, wie er es noch nie zuvor erlebt hatte. Einen Augenblick war er zufrieden, sich einfach treiben zu lassen, während er den Luxus des freien Atmens genoß. Dann begann der Alte sich zu bewegen, und seine Glieder
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