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Wilder Oleander

Wilder Oleander

Titel: Wilder Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathryn Harvey
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bemerkte er auf Abbys Wange die dunkelhaarige Locke, die der Wind dorthin getrieben hatte, und strich sie ihr mit einer hastigen Bewegung, die beide erschreckte, aus dem Gesicht.
    Abby keuchte unterdrückt auf. Jack merkte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Ganz spontan hatte er gehandelt. Und jetzt spürte er an den Fingerspitzen noch immer die Wärme ihrer Haut.
    Verlegen, erstaunt über die Wirkung seiner Berührung, räusperte sich Abby und hielt ihm den Umschlag hin.
    Auf einmal stand Zorn in seinem Gesicht. »Sie wollen mir also helfen? Dann sagen Sie mir die Wahrheit über Nina. Geben Sie zu, dass Sie sie kennen.«
    »Warum sagen Sie immer wieder, dass ich –«
    »Verdammt, Abby, ich habe doch die Akte gesehen! Ich weiß davon. Also hören Sie auf zu lügen und seien Sie endlich ehrlich.«
    »Jack, ich verstehe überhaupt nicht –«
    »Gehen Sie«, sagte er und wandte sich ab. »Wenn Sie mir nicht die Wahrheit sagen wollen, gehen Sie einfach.«
    Abby funkelte Jack an, verletzt und zornig zugleich. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und rannte zur Tür. Jack war verdutzt. Dass sie klein beigab, hätte er nicht erwartet. Als er aber sah, dass sie nicht nach dem Türknopf griff, sondern auf der Tastatur der Alarmanlage eine Zahlenkombination eintippte, eilte er auf sie zu. »Was tun Sie da?«, rief er und packte sie am Handgelenk.
    »Ich gebe den Mastercode für das Sicherheitssystem ein.« Sie riss sich von ihm los, betätigte einen letzten Knopf. Ein schriller Ton war zu hören. »Jetzt sind wir eingeschlossen.«
    »Machen Sie keine Witze.« Er tippte seinen eigenen Code ein.
    »Sie können den Mastercode nicht außer Kraft setzen.« Damit marschierte Abby zum Sofa und setzte sich so entschieden hin, als wolle sie dort auf ewig verweilen. »Ich möchte, dass Sie dies hier lesen«, sagte sie und hielt den Umschlag hoch. »Und wenn Sie das getan haben, können Sie selbst entscheiden, ob ich Sie anlüge.«
    Er sah den Umschlag misstrauisch an, voller Neugier, aber auch mit Abwehr. »Nein«, sagte er.
    »Also gut, dann lese ich es Ihnen vor.«
    Er versuchte nicht hinzuhören, entschlossen, sich nicht von dieser Frau manipulieren zu lassen, aber ihre Stimme war fest und einschmeichelnd und zog ihn an wie die Mücke das Licht.
    »An mein geliebtes Kind«, las Abby vor, »wo immer du auch sein magst. Ich habe dich mit meinem Körper, meiner Seele und meiner Liebe ausgetragen, und dann wurdest du mir genommen. Ich hätte um dich kämpfen sollen. Ich hätte dich festhalten, dich beschützen, dein Leben retten sollen. Aber du warst fort.«
    Gegen seinen Willen fühlte sich Jack zu ihr hingezogen. Er setzte sich neben sie auf das Sofa, während der Wind durch
den Garten wirbelte und liebevolle Worte die Nacht erfüllten.
    »Es geht kein Tag vorüber, an dem ich nicht an dich denke, mir vorstelle, was du tust, Gott bitte, dich zu beschützen. Geliebtes Kind, ich habe dich unter meinem Herzen getragen und nun trage ich dich in meinem Herzen.«
    Abby blickte Jack an. »Es gab eine Zeit, da war ich so von Schmerz erfüllt, dass ich nicht mehr weiterwusste. Und eines Tages, als ich tiefste Verzweiflung empfand, nahm ich ein Stück Papier und fasste alle meine Gefühle in Worte. Ich habe diesen Brief behalten und immer wieder gelesen. Nach und nach wurde er zu einem Linderungsmittel für meinen Schmerz. Die Person, an die der Brief gerichtet ist, hat ihn nie gelesen, diese Worte nie vernommen, und ich weiß nicht einmal, ob das je geschehen wird, aber er hat mir über ein Trauma hinweggeholfen, das beinahe mein Leben zerstört hätte.«
    Er konnte nur mit Mühe antworten. »Was hat das alles mit mir zu tun?«
    Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Schreiben Sie einen Brief an Nina. Sagen Sie ihr, wie sehr Sie sie lieben und wie Leid es Ihnen tut, dass Sie sie nicht beschützen konnten. Heilung entsteht aus Worten, Jack.«
    Der Schmerz überwältigte ihn unversehens, als ihm all die wunderbaren Wesenszüge an Nina einfielen, die er in seiner Trauer verdrängt hatte und die jetzt nach und nach wie kleine glitzernde Sonnen wieder zum Vorschein kamen: Ninas ansteckendes Lachen, das in einem Quieksen endete, ihr Unvermögen, Witze zu erzählen, was alles noch komischer machte, ihre Tierliebe, vor allem für streunende Katzen, die sie immer wieder bei sich aufnahm, ihre Großzügigkeit, mit der sie bedürftigen Freunden aus der Patsche half, ihre Marotte, sich in die Uferbrandung zu legen und sich einzubilden, sie

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