Wilder Oleander
Striker unter die Lupe und brachte sie in Zusammenhang mit dem entflohenen und steckbrieflich gesuchten Häftling.
»Eines Tages wirst du dich verlieben, Abby«, hatte er in den Wochen vor seinem Tod gesagt, als das gemeinsam angelegte Ferienparadies in der Wüste fast vollendet war. »Ich hoffe nur, dass dem Glücklichen bewusst ist, was für ein Juwel er mit dir an Land gezogen hat.«
Empfand Jack für sie das Gleiche wie sie bei ihm – diesen unerwarteten, überfallsartigen Ausbruch von Leidenschaft und Begehren? Darüber wollte Abby später nachdenken und ihren neuen und sie verunsichernden Gefühlen auf den Grund gehen; jetzt galt es erst einmal, sich mit Wichtigerem zu befassen.
Nach dreiunddreißig Jahren der Vorbereitung auf diesen Augenblick – nach drei Jahrzehnten des Weglaufens, der Angst, geschnappt zu werden, der Suche nach ihrer Tochter, von der man behauptet hatte, sie sei tot – gestand Abby sich ein, dass sie überhaupt nicht darauf vorbereitet war. Sie hatte den Brief bei sich, um Ophelia zu beweisen, dass sie immer an sie gedacht hatte. Aber dennoch schlug ihr das Herz bis zum Halse, als sie vor der Tür der Suite Marie Antoinette stand.
In ihrem Bungalow wartete ihr gepackter Koffer, auf dem ein Mantel lag und darauf eine Tasche. Ein Platz im Flugzeug war reserviert. In den folgenden Minuten mit Ophelia würde ein Leben zu Ende gehen, das sie als nur vorübergehend angesehen hatte. Morgen würde ein neues beginnen, weit weg von hier.
Sie klopfte an.
David öffnete ihr. Ein gut aussehender Mann, eine distinguierte Erscheinung mit kohlschwarzem Haar. Sie tauschten einen Händedruck.
Ophelia lag auf einem mit rosa Seide gepolsterten Rokokosofa mit vergoldeten Füßen. In einem Empiregewand hätte sie durchaus als Hofdame in Versailles durchgehen können. Stattdessen trug sie einen unauffälligen Bademantel und schien mit sich selbst zu hadern.
»Es tut mir sehr Leid, Ms. Tyler«, sagte sie und richtete sich auf, »dass ich Ihnen solche Unannehmlichkeiten bereitet habe. Wie unbedacht von mir, einen derartigen Wirbel zu veranstalten! Nehmen Sie doch bitte Platz.«
Abby blieb die Antwort im Halse stecken. Vor dreiunddreißig Jahren, als sie aus der Narkose aufgewacht war, hatte man ihr gesagt, ihr Baby sei tot. Als dann ein paar Wochen später Mercy damit herausrückte, dass das Baby lebte, hatte für Abby die Suche nach ihrer Tochter begonnen. Jetzt jedoch, da die Erfüllung ihres Traums zum Greifen nahe war, fehlten ihr die Worte.
»So was kommt schon mal vor«, meinte sie und setzte sich. »Wir sind jedenfalls froh, dass alles einigermaßen glimpflich abgegangen ist.«
Sie blickte auf Ophelia, auf das Kind, das man ihr weggenommen hatte, noch ehe sie es in die Arme nehmen konnte. Wie viele Geburtstage hatte Abby versäumt, alle diese »ersten Male« im Leben eines kleinen Mädchens. Es drängte sie, mit der Wahrheit herauszuplatzen. Aber dann würde auch alles andere ans Licht gezerrt werden müssen, und wie konnte sie diese junge Frau damit konfrontieren, dass nicht Norman Kaplan, ein erfolgreicher Wirtschaftsprüfer und dem Bericht des Privatermittlers zufolge bekannt für sein karitatives Engagement, ihr leiblicher Vater war, sondern ein kaltblütiger Killer, der aus Geldgier eine alte Frau umgebracht hatte?
Ophelia zupfte an einem Faden an ihrem Bademantel herum. »Ich musste eine schwerwiegende Entscheidung treffen und wollte allein sein, um darüber nachzudenken.«
Schwerwiegende Entscheidung? Jetzt spürte Abby auch die gespannte Atmosphäre, die in der Luft lag. Irgendetwas stimmte nicht. Sie wandte sich an David. »Dr.Messer«, sagte sie, »wären Sie so nett, mich kurz mit Ihrer Verlobten allein zu lassen?«
Er sah Ophelia an. »Könntest du mir ein gemischtes Eis besorgen?«, bat die junge Frau. »Mein Hals ist noch immer wie ausgetrocknet.«
Nachdem sich David verzogen hatte, suchte Abby krampfhaft
nach einem Anfang für das, was sie sagen wollte. Sie hatte angenommen, dass Ophelia, verliebt wie sie war und schwanger und im Begriff zu heiraten, überglücklich wäre und sie somit erleichtert feststellen könnte, dass ihrer Tochter ein herrliches Leben beschert war. »Ich hoffe, Sie haben Ihre schwerwiegende Entscheidung treffen können«, hob sie an und wartete darauf, dass sich Ophelia zu einer Erklärung aufraffte.
»Ich bitte um Entschuldigung, Ms. Tyler«, erwiderte Ophelia und versuchte trotz ihres bandagierten Knöchels und des geschwollenen und rötlich
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