Wilder Oleander
den Bogen auseinander nahm und den Griff in einem Plastikbeutel für Beweismittel versiegelte, schweiften seine Gedanken zu Abby. Wie überraschend die Begegnung mit ihr gewesen war. Abby Tyler respektierte die
Privatsphäre ihrer Gäste, schien ihnen oder ihren ausgefallenen Wünschen gegenüber unvoreingenommen zu sein, tratschte nicht herum, äußerte sich über niemanden irgendwie abschätzig. Eine Frau, die nicht vor den Reichen und Berühmten kuschte. Eine klasse Frau, die ihr grünes Paradies ausschließlich mit dem natürlichen Wasservorkommen aus ihrem eigenen Grund und Boden versorgte, so als wäre sie befugt, hier eine Oase anzulegen, als ob sie sich mit der Wüste selbst handelseinig geworden wäre.
Und sie war warmherzig. Auch wenn Jack sie nicht gut kannte, spürte er doch die Wärme, die von ihr ausging und die sich mit einem heißen Nachmittag in der Wüste vergleichen ließ, den sie in sich aufgesogen hatte und abstrahlte. Eine Wärme, die ihn anzog. Und die vielleicht die Kälte in seinem Leben vertreiben mochte, das entmutigende Gefühl angesichts von Leichen und ungeklärten Mordfällen.
Aber sie verbarg etwas. Und sie log.
Nachdem Bogen, Pfeile, Köcher und Zielscheibe verstaut waren, sammelte Jack seine übrigen persönlichen Sachen zusammen. Er stellte das Foto von Nina auf den Kaminsims, legte den Prospekt des Weinguts daneben. Beides gehörte zusammen. Der Prospekt hatte in der Nacht, da Nina gestorben war, in seiner Tasche gesteckt, weil er sich tags darauf mit dem Besitzer des Weinguts treffen wollte – eine Verabredung, die er nicht eingehalten hatte.
Durch die Tür der »Hütte« blickte er hinaus in den vom Wind gepeitschten Garten. Seine Hoffnung darauf, Ninas Mörder dingfest zu machen und dann frei zu sein, Zukunftspläne schmieden zu können, erwies sich als Trugschluss. Das Weingut schien weiterhin ein Traum zu sein, der sich wohl niemals realisieren würde. Jack fragte sich sogar, ob er selbst jemals wieder zum Leben erweckt werden konnte.
Als er ein Geräusch hörte, dachte er zunächst, der Wind habe
etwas über den Zugang zu seinem Haus getrieben, merkte dann aber, dass jemand an die Tür klopfte.
»Ms. Tyler!«
»Darf ich Sie um diese Uhrzeit noch stören?«
Hinreißend sah sie aus, wie sie da windzerzaust vor ihm stand. Und mit ihrer sonnengelben Bluse und der orangefarbenen Hose schien sie den Anbruch eines neuen Tages zu verkörpern. »Wie geht es Dr.Kaplan?«, fragte er. »Sie ruht sich aus. Die Schwester meint, sie wird bald wieder auf dem Damm sein. Detective, ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
Der Umschlag in ihrer Hand machte ihn skeptisch. Zögernd trat er beiseite und ließ Abby ins Haus. Eine Windbö fegte wie ein ungestümer Eindringling mit ihr herein, wirbelte vorbei an Abby und Jack und durch das im Stil einer Blockhütte gehaltene Wohnzimmer, über die mit ungegerbtem Leder überzogenen Möbel, die Indianerteppiche und den Sims des gemauerten Kamins.
Durch die Zugluft stob Papier auf, landete zu Füßen von Abby. Jack bückte sich, um es aufzuheben, aber Abby war schneller. Sie hob die Brauen, als sie den Prospekt des Weinguts Crystal Creek in Rancho, Kalifornien sah. Neugierig geworden – der auf Hochglanzpapier abgebildete Weinberg präsentierte sich in sattem Grün –, las sie sich die Beschreibung durch. Dreißig Hektar Rebstöcke und alle technischen Einrichtungen, um zehn verschiedene Weine zu keltern, Verkostungsplätze im Freien und unter Dach, der gesamte Komplex an einem Berghang gelegen, von dem man einen atemberaubenden Blick ins darunter liegende Tal hatte. Auf halber Strecke zwischen Los Angeles und San Diego und umgeben von fünfzehn weiteren Weingütern, war Crystal Creek für Weinproben ein beliebtes Ausflugsziel. Es klang verlockend.
Zahlen und Dollarzeichen waren mit Tinte auf die Broschüre gekritzelt, dazu der Vermerk
Anzahlung
.
»Detective Burns«, sagte sie, während sie die Unterlagen auf das Kaminsims legte, »ich habe Ihnen etwas mitgebracht, das Sie lesen sollten. Es ist etwas sehr Privates, das ich vor langer Zeit geschrieben habe. Noch nie hat es jemand anderer gelesen. Aber ich glaube, es kann Ihnen helfen.«
Wieder hielt sie ihn mit diesem eindringlichen Blick fest, ohne auch nur einmal mit der Wimper zu zucken. Es war, als hätten ihre Augen schon alles gesehen, alles kennen gelernt.
»Ich brauche das nicht.«
»Es bedrückt mich, dass Sie diesen Schmerz mit sich herumtragen.«
»Das ist meine Sache.« Dann
Weitere Kostenlose Bücher