Wilder Oleander
sie nichts davon. Es ergab sich noch keine Gelegenheit, darüber zu sprechen.«
Jack stöhnte auf. Er wollte sie erneut küssen, sie in seinen Armen spüren, sie ganz besitzen, gemeinsam seinen und ihren Schmerz zerfließen lassen. Seine Gefühle stürmten heftig auf ihn ein und machten ihm Angst.
Die Nachtluft schwirrte von Emotionen, als er ihr beschwörend sagte: »Lass sie nicht entwischen. Geh zu ihr. Jetzt gleich. Sag ihr die Wahrheit.«
»Das kann ich nicht, Jack. Das wäre Ophelia gegenüber nicht fair. Sie ist ein eigenständiges Wesen, führt ihr eigenes Leben. Was ich brauche und was ich mir wünsche, darf ihrem Glück nicht im Wege stehen.«
Zum ersten Mal, von einer Sekunde zur anderen, wurde ihm bewusst, dass auch Nina ein eigenständiges Wesen gewesen war, dass sie ihre Entscheidungen nach eigenem Gutdünken getroffen hatte, und dass ein Vater oder eine Mutter oder
ein älterer Bruder, der sich als Beschützer aufspielt, ein Kind irgendwann seinen Weg gehen lassen muss. »Nina wusste, dass ihre Nachforschungen gefährlich werden könnten. Ich mahnte sie zur Vorsicht, aber sie hörte nicht auf mich.«
»Jack, du solltest nicht nur dir selbst verzeihen, sondern auch und vor allem Nina.«
Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen, was ihm und Abby gemeinsam war: Er hatte eine Schwester verloren und sie eine Tochter. Und beide hatten sie die verloren Geglaubten wiedergefunden. Zwei Menschen voller Trauer, die sich schuldig fühlten für das, was ihren Lieben widerfahren war.
»Abby, ich kam nicht nur hierher, um Ninas Mörder zu finden, sondern auch, um etwas über ihre leiblichen Eltern zu erfahren. Das schulde ich ihr.«
»Was immer ich dir dabei helfen kann, will ich gern tun. Ich habe massenhaft Akten, die du gern durchsehen kannst.«
»Was bist du doch für eine erstaunliche Frau«, sagte er lächelnd und berührte sanft ihr Haar.
»Es geht immer um Hoffnung«, sagte sie. Wie gern hätte sie jetzt dieses Lächeln geküsst, sich Jacks starken Armen überlassen und ihrem Verlangen nachgegeben. »Eine Blume richtet sich immer der Sonne zu. Egal, wo und wie man sie hinstellt, sie wird sich immer wieder der Sonne zukehren. Nicht anders halten wir es mit der Hoffnung. Wir klammern uns daran, in jeder Lebenslage.«
Sie hatte Recht. Er hatte die Hoffnung aufgegeben. Aber jetzt sah es ganz danach aus, als könnte er zu ihr zurückfinden.
Er zog sie an sich und küsste sie wieder, ungemein zärtlich diesmal. Er strich über ihr Haar, über ihre Schultern, konnte schier nicht fassen, dass diese Frau in sein Leben getreten war, deren innere Wärme ihm durch Haut und Muskeln und Knochen hindurch geradewegs in die Seele drang. Und Abby, die vor Freude den Tränen nahe war, schmiegte sich an
ihn, und zum ersten Mal seit dreißig Jahren tat sich ihr Herz auf.
Das Läuten des Telefons schreckte sie auf. Die Krankenschwester teilte mit, dass Ophelia sich so weit erholt habe, um Besuch zu empfangen. »Geh zu ihr«, sagte Jack, obwohl er Abby nicht weglassen wollte. Aber er wusste, dass sie wiederkommen würde. »Viel Glück.«
An der Tür wandte sie sich noch einmal um. »Schreibe einen Brief an Nina. Auch wenn sie tot ist, schreibe ihn, als ob sie ihn lesen könnte. Sage ihr alles, was du fühlst, Jack, und dann wirst du spüren, wie die Heilung beginnt.«
Als sie gegangen war, stand er auf und ging hinüber zum Schreibtisch, zog ein leeres Blatt hervor und begann zu schreiben …
Kapitel 43
Abby drückte den Handrücken auf den Mund, dorthin, wo Jacks Kuss noch brannte.
Niemals hatte sie sich quicklebendiger gefühlt. Vor Jahren hatte sie sich geschworen, sich nicht mehr zu verlieben, und geglaubt, diesen Schwur einhalten zu können. Nicht einmal während ihrer Ehe mit Sam Striker, den sie sehr gern gehabt hatte, war das Gefühl, auf Wolken zu schweben und im Einklang mit der Welt zu sein, derart überwältigend gewesen.
Der gute Sam. Fünfzehn Jahre älter war er gewesen, dazu kahl und alles andere als gesund. Der neue Garten war für die ihm noch verbleibende Zeit auf Erden gedacht, Abby war ganz überraschend auf den Plan getreten und hatte ein Wunderland aus Bäumen und Büschen, kleinen Lauben, Weihern und Wasserfällen erschaffen. Dies alles hatte zwar Sams Krebserkrankung nicht heilen, aber immerhin sein Leben so weit verlängern können, um ihr durch seinen Namen einen sicheren Hafen zu bieten. Er hatte Recht behalten, kein Polizist nahm die Ehefrau des wohlhabenden Immobilienmaklers Sam
Weitere Kostenlose Bücher