Wildes Erwachen
läuft das ganz anders: Die Damen kommen mit einem dreimonatigen Touristenvisum ins Land und verschwinden dann in die Illegalität.«
Kral schüttelte ungläubig den Kopf: »Wenn du das sagst, wird das wohl stimmen, aber ich weiß immer noch nicht, wie ihr die Ukrainerin aus dem Club holen wollt, wenn bei der alles in Ordnung ist.«
»Ich bin ja auch noch nicht fertig«, fuhr sein Gegenüber ungeduldig fort, »denn jetzt kommst du wieder ins Spiel: Du musst sie heute noch mal kurz besuchen und instruieren. Wenn sie aussagen will, dann soll sie Theater machen, rumschreien und die Polizisten ganz handfest beschimpfen und beleidigen. Und schon haben wir unseren Grund, sie mitzunehmen!«
Der Plan gefiel Kral und als Anerkennung versuchte er sich an Brückners deutschem Dialekt, der ja auch in Selb gesprochen wurde: »Reschpeckt, Reschpeckt! Dirts sedds ma schäine Gauner!«
Nun musste er die Zeit bis neun, halb zehn überbrücken. Vorher würde er Svetlana nicht antreffen. Blieb er bei Brückner, würden bald wieder die Käseschnittchen auf dem Tisch stehen. Irgendwann würde auch seine Frau auftauchen, und der wollte er auf keinen Fall eine Abfuhr erteilen.
Also besser noch irgendwo einen Kaffee trinken, dann Spielbank, vielleicht hatte er ja noch einmal Glück. Schließlich ein Kurzbesuch im »Blue Moon«. Um halb elf konnte er zu Hause sein. Eva würde sicher die Notlüge schlucken, dass es bei Brückner einfach kein Wegkommen gab.
In dem Club machte er demonstrativ auf Terminnot, indem er mehrmals deutlich sichtbar mit dem Zeigfinger auf seine Armbanduhr pochte und laut verkündete, dass er erst morgen genug Zeit für einen längeren Besuch habe. Dann setzte er sich mit Svetlana an einen Tisch und mimte den verliebten Freier, was gar nicht so einfach war, denn Svetlana war ganz und gar nicht darauf eingestellt, dass Kral plötzlich körperliche Nähe suchte. Trotzdem gelang es ihm, sie unauffällig auf die Razzia einzustimmen.
Die Attacke musste heftig und unerwartet erfolgen, dem Feind sollte jede Möglichkeit zu einer geordneten Abwehr genommen werden: Angriff des Ritters »aus dem Stegreif«, also in den Steigbügeln stehend. Die Pädagogik hatte sich dieser Metapher angenommen, um eine besonders effektive Form der Leistungskontrolle zu benennen: die »Stegreifaufgabe«, eine schriftliche Abfrage des Stoffes der letzten Stunde. Die Einführung musste, wie gesagt, unerwartet erfolgen, schließlich sollte jeder Blick ins Heft oder ins Buch und vor allem die Herstellung von Spickzetteln unterbunden werden.
8.45 Uhr. Geschichte in der 8a. Die Klasse war inzwischen etwas zur Ruhe gekommen. Kral stand am Pult, vor sich seine Aktentasche. Wichtig war jetzt ein beiläufiges, eher mildes Dreinblicken. Dann ein ganz perfider Trick: Die Tasche öffnen und ganz beiläufig nach dem Notenbuch greifen. Das führte zu entspannten Blicken auf der Schülerseite: mündliche Abfrage, ein Klacks! Wenn man sich einigermaßen intelligent anstellte, konnte man auch ohne Vorbereitung noch eine Vier, vielleicht sogar eine Drei ergattern.
Doch dann die Attacke mit raumfüllendem Pädagogenorgan: »Hefte und Bücher in die Taschen! Neutrale Unterlage! Wir schreiben eine Stegreifaufgabe.« Dann noch rasch die Blätter verteilt: »Arbeitszeit 20 Minuten!«
Hat doch gut geklappt! Alles im grünen Bereich: kollektives Stöhnen der Klasse, vereinzelte Rufe des Missfallens: »unfair«, »fies«!
Klopfen an der Klassenzimmertür. Was ist denn jetzt los? Die Klasse nicht aus den Augen lassend, bewegte sich Kral in Richtung Tür und öffnete. Vor ihm stand Frau Engel, das »Engelchen«, mit dem Gesicht, das für unangenehme Botschaften reserviert war. Mit Beileidsstimme flüsterte ihm die Sekretärin die Nachricht zu: »Ein Anruf von der Polizei Asch für Sie, ein Herr Svoboda, dringend!«
Was mochte da passiert sein? Hatte nicht Eva im Laufe des Vormittags zum Tanken rüberfahren wollen?
Natürlich hatte die Klasse gemerkt, dass da etwas Ungewöhnliches im Busch war. Es wurde laut. Wahrscheinlich waren die Schüler schon dabei, sich mögliche Lösungen zuzuflüstern und die Hefte unter die Bänke zu schmuggeln.
Kral blieb nichts anderes übrig: Er bat die Klassensprecherin, die Blätter wieder einzusammeln und dann kurz die Aufsicht zu übernehmen. Kein leichter Entschluss! Zwar sehen Schüler eine Stegreifaufgabe fast immer als eine Art Bestrafung, sie ahnen aber nicht, dass sich die Lehrkraft selbst eher bestraft, denn in
Weitere Kostenlose Bücher