Wildes Herz
eine Spur. Nach Süden hin, wo die Ruinen standen, verengte sich das Tal. Am Fuß der alten Befestigungsmauern, hinter denen die Siedlung lag, sprudelte eine klare Quelle. Das wusste Janna von früheren Erkundungen. Weiter hatte sie die Gegend nie untersucht. Schon im Tageslicht waren die Ruinen unheimlich, bei Nacht flößten sie ihr Angst ein. Der Enge in den zerfallenen Behausungen eines ausgestorbenen Volkes zog Janna ihre luftige Halbhöhle weiter unten im Tal vor.
Jetzt suchte sie keinen neuen Lagerplatz, nicht einmal eine vorübergehende Unterkunft. Sie hielt Ausschau nach alten Wegen. Die Indianer könnten ihre Felsenfestung noch über andere Pfade erreicht haben als nur durch den düsteren Felsspalt am entgegengesetzten Talende. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass sie ein Tal mit einem einzigen Zugang besiedelt hatten, aber das bezweifelte Janna. Ein Volk, das so viel Mühe darauf verwandte, seine Siedlungsstätte verborgen zu halten, bestand aus vorsichtigen Menschen. Solche Menschen wussten, worin der Unterschied zwischen einer Festung und einer Falle bestand. Eine Festung ließ sich durch ein geheimes Schlupfloch verlassen.
In der weiten Landschaft draußen, jenseits ihres geheimen Tales, hatte Janna die alten Pfade gefunden, wenn sie auf einer Anhöhe stand und den Blick langsam und entspannt umherschweifen ließ. Sobald das Auge nicht mehr auf einen Punkt eingestellt war, tauchten Muster auf - als schwache Linien und seltsame Schatten. Meistens waren es zufällige Erscheinungen in einer unberührten Natur, aber manchmal entdeckte sie Geisterpfade, die nicht mehr von Menschen benutzt wurden.
Janna suchte das Gelände um die Ruinen in alle Richtungen ab und hielt nach Pfaden Ausschau - nach alten und neuen. Außer Gras, Buschwerk, Felsbrocken, Sonnenlicht und der Spur ihrer eigenen Schritte fand sie nichts am Boden. Sie trieb Zebra tiefer in die Siedlung hinein. Der Winkel, in dem die Sonne stand, ließ den Schatten der steilen Schluchtwand auf die eingestürzten Mauern fallen, als würde die Dunkelheit zuerst die Steinbauten und dann das Tal darunter ertränken.
Ein kalter Schauer überlief Janna. Nach der Tagesmitte, wenn die Sonne auf den Felsen und dem alten Mauerwerk ihr Spiel mit Licht und Schatten trieb, hatte sie die Ruinen immer gemieden. Nur die Gewissheit, dass keine indianische Geistererscheinung bösartiger sein konnte als das Schicksal, das sie in Gestalt der Abtrünnigen jenseits der Felspassage erwartete, ließ sie weitergehen.
Wie sehr sie auch ihren Blick fixierte, ob sie den Kopf neigte oder gerade hielt, die Augen zusammenkniff oder aufriss, sie konnte nichts am Boden erkennen, das auf einen alten Pfad hinwies. Sie kletterte aus dem ummauerten Geviert, in dem Mad Jack sein Gold gelagert hatte, und durchstreifte das freie Gelände vor der Behausung. Wieder fand sie nichts, außer ein paar verrutschten Kieselsteinen, bei denen sie nicht sicher sein konnte, ob Mad Jack sie beim Gehen angestoßen hatte oder sie selbst.
Sie drang weiter in die zerfallene Siedlung vor. Das Talende, in das die Behausungen gebaut waren, verengte sich immer mehr. Geröll bedeckte den Boden. Zuerst glaubte Janna, der Schutt wäre Steinschlag von den umstehenden Felswänden. Je weiter sie ritt, desto verwunderter betrachtete sie den Untergrund. An manchen Stellen sah der Schotter aus, als sei er früher eingeebnet gewesen. Sie hatte den Eindruck, als würde ein Weg in breiten Stufen oder schmalen Terrassen aus dem schlauchförmigen Tal führen.
Mit wachsender Erregung folgte sie den spärlichen Resten eines Pfades, der sich in alter Zeit durch die zerklüftete Felswand an der Stirnseite des geheimen Tales nach oben gewunden haben musste. Zebra trat einen Kiesel los, der bergab unter Lucifers Huf rollte. Bei dem Geräusch scheute die Stute schnaubend. Sie schien beunruhigt, dass sie einen Weg nehmen sollte, der immer enger wurde und allem Anschein nach ins Leere führte.
„Ruhig, Mädchen“, sagte Janna begütigend und streichelte die Stute. „Hier ist niemand. Nur du, ich und Lucifer und eine Menge Steine. Die Schatten sehen nur unheimlich aus. Da ist nichts. Nur Luft.“
Unter Jannas Drängen erklomm Zebra den immer steiler werdenden Pfad. Je weiter sie kamen, desto mehr schwanden Jannas Hoffnungen. Was am Anfang wie ein breiter Weg ausgesehen hatte, verwandelte sich rasch in eine Halde aus Felsblöcken und Steinen, dem Schotter immer ähnlicher, der sich am Fuß von Steilwänden
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