Wildhexe 2 - Die Botschaft des Falken
um zu sehen, was ich da anstarrte. »Oh, fuck«, murmelte er. Sogar Oscar hatte ein bisschen Angst vor Martin.
Es klingelte. Aber Martin und seine Schneeballgang kümmerten sich nicht um die schrille Glocke, sondern warfen einfach weiter. Und zwar auf alle, die versuchten, durch die Tür in den B-Bau zu kommen. Eiskugeln schossen durch die Luft, und Schmerzensschreie und Geheul wurden laut, wenn sie trafen.
»Clara, es sind Schneebälle«, sagte Oscar. »Du bist eine Wildhexe. Du wirst doch wohl verdammt noch mal keine Angst vor Schneebällen haben?«
Doch, hatte ich.
»Los, komm«, sagte er wieder. »Wir rennen einfach. Wenn sie uns trotzdem treffen, werden wir es schon überleben.«
Er klopfte mir auf die Schulter, ein bisschen weniger hart und klatschend als bei Theis. Dann raste er in vollem Galopp los, und irgendwie gelang es mir auch, die Stiefel vom Asphalt zu lösen und hinterherzurennen. Ich kniff die Augen zusammen, sodass ich gerade noch den Boden vor meinen Füßen sehen konnte, und wartete jeden Moment darauf, von einem nassen, harten Eisklumpen getroffen zu werden.
Ich wurde nicht getroffen. Stattdessen passierte etwas viel Schlimmeres.
Gerade als ich die Treppe hoch und durch die Tür spurten wollte, stieß ich mit etwas zusammen. Mit jemandem. Ich verlor das Gleichgewicht, ruderte wild mit den Armen und kippte um.
Nicht, dass es so schrecklich wehgetan hätte. Meine Daunenjacke fing den Großteil des Aufpralls ab, aber ich knallte mit dem Knie auf eine Treppenstufe, und als ich mich aufsetzte, sah ich, dass ich mir ein Loch in die Leggings gerissen hatte. Aber auch das war nicht das Schlimmste. Noch viel schlimmer war, dass ich ausgerechnet mit Martin zusammengestoßen war.
Er stand langsam auf. Der Schneematsch hatte seine Skaterhosen durchnässt.
»He, Martin«, rief einer seiner Kumpels, der besonders mutig war. »Hast du dir in die Hose gepisst, oder was?«
Seine Clique lachte ein bisschen seltsam, heiser und irgendwie nervös. Ich saß auf der Treppe vor seinen Füßen und schaute von unten zu ihm hoch. Er sah riesengroß aus. Ich konnte sein Gesicht nur undeutlich erkennen – er stand so nah, dass sein schwarzer Anorak fast mein ganzes Blickfeld ausfüllte. Der Anorak und außerdem zwei breite, nackte Hände, die von den vielen Schneebällen, die sie geformt hatten, nass und feuerrot waren.
»He, du Mistkäfer«, zischte er, »pass gefälligst auf.«
Das tat ich normalerweise wirklich. Sonst machte ich immer einen großen Bogen um alles, was nach Problemen aussah. Ich wurde selten gemobbt oder geärgert, weil ich so gut darin war, mich ein bisschen unsichtbar zu machen. Um jemanden zu ärgern, muss man ihn schließlich erst bemerken.
Und jetzt hatte Martin mich aber so was von bemerkt.
Er beugte sich über mich, und dieses Mal konnte ich auch sein Gesicht erkennen – es leuchtete fast genauso rot wie seine Hände, mit zwei seltsam geschwollenen Augen, die eigentlich nur glänzende Schlitze mitten im Roten waren. Er hob eine Handvoll total verdreckten Treppenmatsch auf, und ich schaffte es gerade noch, die Augen zuzukneifen, bevor er mein Gesicht mit einer eiskalten Mischung aus kleinen Steinchen, Streusalz und Schneematsch einseifte. Dann stieg er über mich weg und verschwand, offenbar ohne sich für seine Clique zu interessieren. Sie folgten ihm und machten eine große Nummer daraus, über mich drüberzulatschen, als wäre ich nicht da. Ein Knie traf mich im Rücken, ein paar von ihnen klatschten mir ihre nassen Handschuhe in den Nacken, und einer trat mir auf den Fuß.
»Hey, lasst sie in Ruhe!«
Das war natürlich Oscar. Er bekam im Vorbeigehen auch noch einen Handschuhklatscher ab, aber keiner der Typen blieb stehen. Die Botschaft war klar – auf mir konnte man rumtrampeln, ich war ein kleines unbedeutendes Häufchen Dreck, das eben selbst schuld war, wenn es nicht rechtzeitig aus dem Weg ging. Viel Spaß, hatte meine Mutter gesagt. Danke auch.
» Die sind doch die Mistkäfer«, zischte Oscar wütend und half mir auf die Füße. »Alles okay?«
»Ja«, murmelte ich. Nass, total dreckig und mit einem Gesicht, das sich anfühlte, als wäre es mit gefrorenem Schleifpapier poliert worden. Aber sonst alles okay.
»Warum unternimmst du nicht irgendwas?«, sagte Oscar. »Verjag sie doch, so wie die Möwen, oder mach irgendwas anderes Wildhexiges. Stattdessen lässt du sie einfach … auf dir rumtrampeln.«
»So einfach ist das nicht«, sagte ich. »Bei dir klingt es, als
Weitere Kostenlose Bücher