Wildhexe 2 - Die Botschaft des Falken
worden. Es hatte gerade angefangen zu dämmern, und die einzigen Spuren im Schnee waren Tierspuren. Ich konnte nicht erkennen, ob es ein Hund, eine Katze oder vielleicht sogar ein Fuchs gewesen war.
Dann stutzte ich mitten im Gähnen. Und stand ganz still. Ganz, ganz still.
Die Tierspuren bildeten ein Muster. Nicht besonders präzise, nicht so, als hätte ein Mensch in den Schnee geschrieben. Aber trotzdem bestand kein Zweifel daran, dass das da unten Buchstaben waren.
ERINN EREVI RIDI AN.
»Oscar!«
Ich packte und schüttelte ihn, bis er so wach war, dass er versuchte, mich wegzuschubsen, während er verschlafen murmelte: »Lassmiiiiiich!« oder irgendwas in der Art.
»Oscar, verflixt und zugenäht. Schau dir das an!«
Ich musste ihn fast zum Fenster zerren.
»He!«, sagte er erfreut. »Es hat geschneit!«
»Ja, aber schau dir mal die Spuren an.«
»Ja, sieht gut aus. Glaubst du, das war ein Fuchs?«
»Kannst du nicht sehen, was da steht?«
Er kniff die Augen zusammen und runzelte die Stirn.
»Steht? Da steht doch nichts. Clara, da war doch nur ein Tier.«
Er konnte es nicht sehen. Ich kapierte nicht, wie das möglich war, denn für meine Augen waren die Buchstaben mehr als deutlich, sogar trotz der Wintermorgendunkelheit und im Schein der Straßenlaternen.
ERINN EREVI RIDI AN.
Erinnere Viridian.
»Puh, bin ich hungrig«, sagte Oscar.
»Kannst du nicht sehen, was da steht?«, fragte ich noch einmal. »Erinnere Viridian!«
Er schaute mich an, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank.
7 GETRETEN WERDEN
Mama fand Fahrradfahren bei diesem Wetter zu gefährlich und brachte uns mit ihrem kleinen Kia in die Schule. Wir machten erst Halt bei Oscar zu Hause, damit er Luffe nach oben in die Wohnung bringen, sich umziehen und das Buch, das wir im Dänischunterricht durchnahmen, holen konnte.
»Was hat deine Mutter gesagt?«, fragte Mama, als er wieder unten war.
»Nichts«, sagte Oscar. »Sie war schon im Büro. Sie sagt immer, sie kann dann schon so viel erledigen, bevor die anderen kommen.«
»Macht sie das oft?«, fragte ich und dachte dabei, wie sehr es mir fehlen würde, wenn Mama und ich nicht unsere verschlafenen kleinen Rituale am Frühstückstisch hätten. Nicht weil wir da so viel redeten, aber ich bekam immer eine kurze Guten-Morgen-Umarmung und einen prustenden, kitzelnden Kuss in den Nacken, während sie durch die Küche schlurfte, Kaffee kochte, Müsli auf den Tisch stellte und Brötchen im Mini-Ofen aufbackte.
»Eigentlich nur, wenn ich bei meinem Vater bin«, sagte Oscar.
Vor der Schule herrschte großes Gedränge, denn Mama war nicht die Einzige, die an diesem Morgen das Auto dem Fahrrad vorgezogen hatte.
»Ich kann hier nirgends parken«, sagte sie. »Heute heißt es Stopp-und-Hopp. Habt ihr alles?«
»Ja, ja«, sagte Oscar und hielt schon durch das Autofenster Ausschau nach seinen Freunden.
Mama hielt, und wir stiegen hastig aus.
»Viel Spaß«, rief Mama und fuhr los, sobald wir die Autotüren zugeschlagen hatten. Der Wagen hinter uns fing schon an zu hupen. Ich winkte ihr, aber ich glaube nicht, dass sie es gesehen hat.
»Theis!«, rief Oscar einen seiner Klassenkameraden. »Hey, Theis …« Er rannte los. Ich stapfte in einem etwas trägeren Tempo hinterher. Der Schnee im Schulhof war längst zu grauem Matsch zusammengetrampelt worden und spritzte in alle Richtungen, wenn man rannte. Was hatte ich noch gleich in der ersten Stunde? Mein Hirn fühlte sich an wie Schaumgummi.
Ein paar Jungen aus der Achten waren mitten in einer Schneeballschlacht. Oder besser gesagt in einer Eisballschlacht, denn der angetaute Schnee ließ sich höchstens zu kleinen grauen und steinharten Eiskugeln zusammendrücken. Ich blieb auf der Stelle stehen. Ich hatte nicht die geringste Lust, ins Kreuzfeuer zu geraten.
Oscar hatte bemerkt, dass ich zurückgefallen war. Er klopfte Theis mit seiner nassen Handschuhhand auf die Schulter, dass es laut klatschte.
»Komme gleich.«
»Du musst du dich wohl erst noch um deine Liebste kümmern?«, sagte Theis und sah genervt aus.
»Sie ist nicht meine Liebste«, sagte Oscar gelassen. Er war ziemlich immun gegen das Gerede. »Clara, komm jetzt.«
Ich rührte mich nicht vom Fleck. Ich stand nur da und starrte die großen Jungs an. Besonders einen von ihnen. Martin. Martin aus der 8c. Nicht weil er größer oder stärker als die anderen gewesen wäre. Er war nur bösartiger.
»Clara …«
Oscar war wieder bei mir angekommen. Er drehte sich um,
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