Wildnis: Thriller - Band 3 der Trilogie
so gezittert?“
„ Nein.“ Sie machte sich frei, betrat den leeren Umkleideraum und holte ihre Sachen aus einem Spind, ohne aufzuschauen, als ob er nicht da wäre.
„ Vielleicht solltest du zu einem Arzt gehen und einen Check-up machen lassen.“ Jan machte eine vage Handbewegung. „Einfach mal alles überprüfen.“
Sie setzte sich und öffnete die Bänder, die ihre Ballettschuhe fixierten.
„ Unser Hausarzt kann dir sicher jemanden empfehlen, der –“
Sie hatte den ersten Schuh ausgezogen. Jan starrte auf das Blut an ihren Zehen.
„ Bist du wahnsinnig?“ Er setzte sich neben sie und drückte sie an sich. „So darfst du dich nicht zurichten! Wie kannst du dir so etwas antun?“
Sie schluchzte – und befreite sich plötzlich, sprang auf und schrie mit verzerrten Zügen: „Lass mich in Ruhe! Das ist mein Reich! Du hast hier nichts zu suchen!“
Als wäre ein Golden Retriever zu einem Pitbull Terrier mutiert, so unvermittelt und drastisch war ihr Stimmungswechsel. Jan hob erschrocken die Hände. „Ganz ruhig! Ich habe dir nichts getan, ich wollte mich bloß um dich kümmern.“
„ Hau ab! Verschwinde!“
Jan stand auf. Doch selbst auf gleicher Augenhöhe fühlte er sich bedroht von diesem Ausbruch. Ihre Pupillen waren geweitet, die Stirnadern geschwollen, ihre Narbe trat hervor. Sie stieß ihn zur Tür.
„ Anna, was ist bloß in dich gefahren? Autsch, du tust mir weh, was soll das?“
Sie riss die Tür auf und schubste ihn in den Gang. Er drehte sich zu ihr um. Fast hätte er sich die Finger eingeklemmt, so schlug sie ihm die Tür vor der Nase zu.
Unfähig einen klaren Gedanken zu fassen, verharrte er auf der Stelle. Was war in sie gefahren? So hatte er sie noch nie erlebt. So hatte er überhaupt noch nie jemanden erlebt! Doch, Oliver, als er in seinem rasenden Hass Albert zu Tode geprügelt hatte. Aber das war Alaska und nicht Berlin, Oliver und nicht Anna.
Er fühlte sich ohnmächtig. Alles war so schnell gegangen. Hätte er versuchen sollen, sie in den Arm zu nehmen? Unmöglich. Hätte er sie anschreien sollen, um sie wieder zur Vernunft zu bringen? Er wollte nicht wissen, wozu das hätte führen können.
Wie betäubt ging er den Gang hinunter und steuerte auf den Ausgang zu.
Schritte, jemand kam ihm entgegen. Wer war noch im Haus?
Rainer kam um die Ecke, er lächelte spöttisch. „Ein später Besucher?“
Jan hätte ihm am liebsten aufs Maul gehauen. Stattdessen sagte er: „Ich bin gekommen, um Anna abzuholen.“
Rainer war zwar nur einen halben Kopf größer als Jan, hielt aber das Kinn leicht nach oben, so dass er immer hinabschaute. „Sie scheint hiergeblieben zu sein.“ Damit ließ er Jan stehen und schritt affektiert den kahlen Gang davon.
Auf einen Schlag begriff Jan: Anna hatte ihn verscheucht, um Rainer allein zu empfangen! Der Dreckskerl konnte nur auf dem Weg zu Anna sein, mochte regelmäßig zu ihr kommen, wenn alle Anderen längst gegangen waren, und vielleicht nahm er sie mit in sein Zimmer, im Wohnheim auf der anderen Seite des Geländes.
Alles war verloren, sie konnte ihn unmöglich noch lieben, falls sie ihn je geliebt hatte. Es ging nur noch darum, die Trennung zu vollziehen. Er würde ihr die Wohnung lassen, die so praktisch nahe an der Ballettschule lag, er könnte es ohnehin nicht mehr darin aushalten.
Nein! Er würde ihr die Wohnung nicht geben! Sie betrog ihn mit einem Anderen, er würde ihnen nicht auch noch ein Liebesnest schenken. Sollte er Rainer hinterher rennen, die beiden zur Rede stellen? Er wusste zu wenig von dem, was geschehen war, und wie er darauf reagieren wollte, er musste erst einen klaren Kopf bekommen, sich bewegen. Laufen, bis er die Vorstellung ertragen konnte, in die Wohnung hochzusteigen und Anna entgegenzutreten und ...
Aber vielleicht irrte er sich. Vielleicht steigerte er sich so in Wut und Schmerz hinein, dass er alles missverstand oder übertrieb. Er musste mit jemandem sprechen – mit Chris, der heute Mittag am Telefon das Wort ‚Verdacht‘ rausgerutscht war.
Er nahm den Hinterausgang und ging zu dem Wohnblock, in dem die Ballettschüler untergebracht waren. Anna hatte ihn im Frühling einmal zu Chris mitgenommen, er fand ihr Zimmer im Erdgeschoss auf Anhieb.
Er klopfte mehrmals. Eine Blondine mit hohen Wangenknochen kam um die Ecke und sagte mit einem harten Akzent: „Chris ist ein Stockwerk höher, in der Küche.“
Jan bedankte sich und stieg die Treppen hinauf. In der Gemeinschaftsküche saßen fünf Mädchen und
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