Wildnis: Thriller - Band 3 der Trilogie
ausspionieren, von dem sie sich bedroht fühlte. Deswegen hatte sie Jan dazu gebracht, der Gruppe vorzumachen, dass er ihr nachstellte. Er hatte dieses Täuschungsmanöver gehasst, aber schließlich ihrem Druck nachgegeben. Und nach der Gewitternacht hatte sie verschwiegen, dass sie Greg gefoltert hatte, obwohl es für die Gruppe wichtig gewesen wäre, das zu wissen. Dann im Winter hatte sie ihren Pianisten-Freund in Paris erfunden, um Jans Hoffnungen zu zerschlagen. Er dachte das ungern, aber er musste damit rechnen, dass sie ihn belügen würde, falls er sie zum Reden bringen könnte.
Er hielt es in der Wohnung nicht mehr aus, wollte spazieren gehen, traute sich jedoch nicht, das Telefon zu verlassen, da er sich nicht sicher war, ob Chris seine Handy-Nummer hatte, schimpfte mit sich, dass er übertreibe und kein Notfall zu erwarten stünde, und blieb dennoch zu Hause. Um sich irgendwie zu beschäftigen, holte er die Seminararbeit wieder hervor und zwang sich dazu weiterzuschreiben, obwohl er wusste, dass er morgen mindestens die Hälfte davon löschen würde.
Dennis klopfte an der Tür, wie er es gelegentlich tat, wenn er aus der Krankengymnastikpraxis nach Hause kam. Die Unterhaltung mit ihm war nach wie vor nicht ganz einfach, oft stockte er mitten im Satz, manchmal verhaspelte er sich, und immer verstrichen einige Sekunden, ehe er überhaupt eine Antwort fand. Dabei war er ein einfühlsamer, gedankenreicher Beobachter, nur schaffte er es nicht, daraus ein konventionelles Gespräch zu machen, und die Frustration darüber behinderte ihn zusätzlich bei seinen Versuchen. Jan fühlte sich mit diesem sensiblen Außenseiter verbunden. Vor allem war er dankbar, dass sich Dennis während der düsteren Monate um ihn gekümmert hatte, als er aus dem Chix-Tal zurückgekehrt und von Anna getrennt ins fremde Berlin gezogen war.
Trotzdem hatte Jan jetzt keinen Nerv, Dennis hereinzulassen. Sie wechselten einige Worte und Dennis verabschiedete sich. Jan nahm seinen Streifzug durch die Wohnung wieder auf, reinigte die Teekanne in der Küche und entfernte überflüssige Zettel von ihrer Pinnwand.
Es wurde 19:00 Uhr, 19:30 Uhr und Anna kam, wie üblich, nicht zurück, probte angeblich mit Chris und tanzte in Wirklichkeit allein.
Er hatte schon viel zu lange gewartet! Entschlossen eilte er die Treppe hinunter, schnappte sich sein Rad, fuhr die Greifswalder Straße nach Norden. Die Straßenlaternen brannten bereits, die Autos fuhren mit Licht und die Bäume verloren in der Dämmerung ihre Farben. Er trat fest in die Pedale und erreichte nach wenigen Minuten die Schule: ein weißer Kasten inmitten von Mietskasernen, so wenig künstlerisch, wie ein Ort nur sein konnte.
Er durchquerte die Grünfläche vor der Schule, betrat den Hauptbau und nahm den Gang zur dahinterliegenden Tanzhalle. Das letzte Mal, dass er hier gewesen war, vor fast drei Monaten, hatte es vor Menschen gewimmelt, so viele Familienangehörige und Freunde wollten die Abschlussaufführung des ersten Jahres sehen. Nun war lediglich der Gang beleuchtet, die Fenster über den Seitentüren hingegen blickten dunkel. Kein Laut war zu hören. Er atmete durch, rang sich ein Lächeln ab und zog die Tür zur Tanzhalle auf.
Anna stand in der Mitte des Raumes auf den Spitzen, die erhobenen Arme leicht gewölbt, ihren Kopf in seine Richtung gedreht. Ihre weiße Gestalt spiegelte sich auf dem dunkelgrauen, glänzenden Boden. Jan ging unsicher auf sie zu, wartete, dass sich irgendeine Regung auf ihrem Gesicht abzeichnete, doch sie senkte nur Fersen und Arme.
Glomm da ein Funken Freude, dass er gekommen war, sich über die Barriere hinweggesetzt hatte, die sie um ihre Ballettschule errichtet hatte? Es mochte auch Erleichterung sein, dass das Versteckspiel ein Ende hatte. Was immer es war, ihre Fassade zeigte Risse.
„ Ich wollte dich abholen.“ Er blieb vor ihr stehen und lächelte ihr zu. „Nach gestern dachte ich mir, du solltest dich heute ein bisschen schonen.“
„ Ich ...“ Sie rang sichtbar mit sich.
„ Lass uns essen gehen!“
Sie schwieg. Er legte ihr den Arm um die Schulter und schob sie zu den Türen, hinter denen er die Umkleiden vermutete. Er fürchtete, ihren Widerstand herauszufordern, doch sie ließ sich führen.
„ Wie war dein Tag?“, erkundigte er sich.
„ Ich bin heute nicht gut drauf, alles geht mir daneben ... Und bei dir?“
„ Für die Seminararbeit habe ich ewig gebraucht. Was gestern in der Oper passiert ist ... Hast du heute nochmal
Weitere Kostenlose Bücher