Wildnis: Thriller - Band 3 der Trilogie
halten und hob sein Tageslimit von 800 Euro ab. Viel mehr gab sein Konto ohnehin nicht her.
Um 9:43 Uhr ging ein Regionalexpress nach Rostock. Jan blieb gerade noch die Zeit, die Fahrkarte, eine Flasche Wasser und ein Sandwich zu kaufen. Der Zug war schwach besetzt. Kaum jemand fuhr im Herbst unter der Woche an die Ostsee, selbst wenn das Wetter schön war. Er stieg in den oberen Stock des Doppeldeckers und setzte sich ans Fenster.
Sie fuhren durch Pankow am nördlichen Stadtrand. Wohnkasernen im DDR-Graubraun, Schrebergärten, stillgelegte Fabriken, ein strahlend weißer Bürokomplex mit verschwenderisch-modernistischer Architektur, Brachflächen, die schlichten Häuschen und überladenen Vorgärten einer Stadtrandsiedlung. Dann waren sie draußen, überholten Autos auf einer parallel verlaufenden Landstraße, der Fernsehturm glitzerte am Horizont.
Von Bäumen gesäumte Bachläufe, wie Alleen. Eingemottete Motorboote, bald darauf ein See, daneben Fischteiche. Haltestellen mit wenigen Häusern und enormen Parkplätzen. Ein Bauernhof in einem Feld aus Solaranlagen, das hatte er noch nie gesehen. Kein Wunder, gewöhnlich las er im Zug ununterbrochen.
Sie rauschten durch ein winziges Dorf, in einem Garten plantschten Kinder. Wurde eines von ihnen missbraucht? Wie groß war diese Gefahr für ein Kind? Er nahm sein Handy und schaute im Internet nach. Für Mädchen zehn Mal höher als für Jungen, stand auf Wikipedia, insgesamt 300.000 gemeldete Fälle in Deutschland jährlich, bei einer fünfzehn- bis zwanzigmal höheren Dunkelziffer. Und von dem geringen Anteil angezeigter Fälle kam es nur bei jedem Fünften zu einer Gerichtsverhandlung.
Er las auch, dass in diesem Jahr die Verjährungsfrist bei sexuellem Missbrauch von Minderjährigen verlängert worden war. Bestimmt hatten die Skandale um die katholische Kirche dazu beigetragen. Aber warum bedurfte es dieses medialen Aufschreis, damit sich etwas bewegte? Wieso waren nicht längst wirkungsvollere Maßnahmen ergriffen worden, wer schützte die Täter?
Je weiter sie kamen, desto einsamer und welliger wurde die Landschaft. Einmal stand mitten im Wald ein schmuckes, altes Haus – kaum fünf Meter von den Schienen entfernt. Jan rätselte, ob die Bahnlinie zufällig an diesem Haus vorbei errichtet worden war oder ob ein skurriler Mensch diesen Platz bewusst gewählt hatte, bis ihm der Gedanke kam, dass es sich um eine stillgelegte Haltestelle handeln könnte.
Sein Handy vibrierte. Es war seine Anwältin, Frau Voß, die ihn vorwarnte, sie habe schlechte Nachrichten. Die Indizien belasteten Anna. In Rainers Unterhose war Sperma in geringen Mengen gefunden worden. Auch die Quetschungen, die er sich im Genitalbereich zugezogen hatte, wiesen darauf hin, dass er zum Zeitpunkt seines Sturzes sexuell erregt gewesen war. Beides sprach für eine Frau als Täterin und insbesondere für Anna, denn mittlerweile hatten einige Tanzschülerinnen geäußert, dass Rainer an Anna interessiert gewesen war. Außerdem hatte eine ältere Dame, die ihren Hund ausgeführt hatte, eine Frau in der Nähe der Ballettschule rennen sehen, etwa zwanzig Minuten, nachdem Jan Rainer im Korridor begegnet war. Die Personenbeschreibung passte vage auf Anna.
Jan dankte ihr und wollte das Gespräch schon beenden, als ihm jäh einfiel, dass die Polizei möglicherweise die Position seines Handys orten könne. Frau Voß bestätigte ihm, dass das technisch problemlos möglich sei, sowohl über die Zuordnung zu Sendemasten als auch präziser über GPS. Jan verabschiedete sich und schaltete das Handy aus. Wahrscheinlich saßen bereits Polizisten in Zivil in seinem Großraumabteil.
Um sich selbst machte er sich keine Sorge, es stand wohl in keinem Gesetz, dass man sein Haus nicht über das Dach verlassen durfte, und selbst wenn es unter seinen besonderen Umständen verboten gewesen war, sich der Polizeibewachung zu entziehen, würde er kaum eine harte Strafe erhalten. Er hatte mit guten Vorsätzen gehandelt und niemand war zu Schaden gekommen. Das würde Frau Voß regeln können.
Aber er wollte den Kommissar von Anna fernhalten. Was würde es ihm bringen, die Polizei zu verklagen, weil bei Annas Verhaftung die Schusswaffe zum Einsatz gekommen war?
Plattenbauten erhoben sich in der Ferne. Sie erreichten Rostock und hielten in einem altmodischen, ein wenig heruntergekommenen Sackbahnhof. Doch als Jan die Unterführung hinunterging, fand er sich in einer länglichen Halle wieder, die ebenso gut zum Berliner
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