Wildnis: Thriller - Band 3 der Trilogie
Schmerz: Woher hatte Farid diese Akte? Anna war heute überraschend bei ihm eingeliefert worden. Am frühen Nachmittag. Und beim Verlassen der psychiatrischen Klinik ... Jan vergegenwärtigte sich noch einmal, wie er den Arzt zum ersten Mal im Gespräch mit der Empfangsdame gesehen hatte. Farid war auf ihn zugekommen, gelassen, die Arme auch beim Gehen ruhig an den Seiten. Er hatte keine Mappe getragen, keine Tasche, keinen Rucksack. Annas Krankenunterlagen mussten bereits hier gewesen sein!
Jemand war im Zimmer!
Jan zuckte zusammen, seine Zähne schlugen aufeinander.
Im Fenster sah er das Spiegelbild einer hellen Gestalt hinter sich.
Er fuhr herum.
Farid stand in der offenen Tür, er trug einen dünnen, beigefarbenen Kaftan, dessen weite Ärmel fast den Elektroschocker in seiner Hand verdeckten.
„ Entschuldige!“, sagte Jan jämmerlich. „Ich ... Ich weiß nicht, wie ...“
Farid kam auf ihn zu. „Habe ich den Schlüssel stecken lassen?“
Jan nickte.
„ Dann habe ich es so gewollt.“
„ Ich hätte nicht –“
„ Klar hättest du nicht – aber Adam hat auch. Und wahrscheinlich hast du geahnt, dass du etwas über deine Freundin finden würdest. Was sonst könnte mich so spät noch beschäftigt haben?“
Jan nickte wieder.
„ Du hast sicher einige Fragen.“ Farid lächelte, legte den Elektroschocker auf den Tisch und ließ sich im Korbstuhl nieder.
Jan schaute ihn unsicher an.
Der Elektroschocker lag wie ein dickes Insekt auf dem Schreibtisch, in Jans Reichweite, und Farid saß zwei Meter entfernt, die Beine übereinandergeschlagen.
Jan sagte sich, dass er die Kontrolle über die Situation hatte. Er würde Farid erst zu Anna befragen und danach zur Akte.
„ Woran leidet Anna?“
„ An einer dissoziativen Identitätsstörung. An einer Gabe, die ihr vielleicht das Leben gerettet hat.“ Farid hielt inne und fuhr sich mit dem Finger übers Kinn. „Ich habe einen Fehler begangen und die Tür nicht wieder abgeschlossen. Ein kluger Fehler, der meinen mangelnden Mut kompensiert hat. Denn wenn Anna jemanden kontaktiert, dann dich – du musst also ihre Geschichte kennen, damit du richtig mit ihr umgehen kannst. So schwer es mir fällt, ich muss die ärztliche Schweigepflicht brechen. Aber du darfst nie erzählen, was ich dir jetzt sagen werde.“
„ Kein Wort ohne deine Erlaubnis.“
Farid rieb sich nochmals das Kinn und sagte: „Wir Menschen können sein, wo wir nicht sind. Wir nennen es Fantasie. Es gibt kaum etwas Nützlicheres! Nimm den Steinzeitmenschen, der sich vorstellt, wie es wohl ausgehen mag, wenn er mit seinem Faustkeil ein Mammut angreift. Er wird darauf kommen, dass es gesünder für ihn ist, das Mammut über eine Klippe zu treiben. Unsere Fantasie hilft uns, angemessen zu handeln.“
Jan nickte ungeduldig. Wieso hielt sich Farid mit einer solchen Vorrede auf? Wahrscheinlich um ihm die Zeit zu geben, zur Ruhe zu kommen, ehe Farid schwer erträgliche Dinge sagen würde.
„ Sie hilft uns auch, Situationen zu ertragen, in denen wir nicht handeln können. Du kennst das sicher, ganz harmlos, von langweiligen Vorlesungen an der Uni, durch die du dich hindurchträumst. Das ist eine schwache Form von Dissoziation. Kinder haben ein besonderes Talent dazu, sich von der Realität abzukoppeln. Sie können viel leichter in Fantasiewelten entschlüpfen. Das ist ein wundervolles Geschenk. Es verzaubert die Kindheit. Und nebenbei ist es nützlich, es fördert die Entwicklung und gleicht Belastungen aus. Nur manchmal wird es zu einem Fluch.“
„ Anna fantasiert wie ein Kind?“
Farid lächelte. „In gewisser Weise, ja. Nur reicht ihre Dissoziation viel tiefer in ihre Persönlichkeit hinein. Jungen spielen Seeräuber, Mädchen kleiden sich wie Prinzessinnen, und für eine Weile ohne Uhrzeit befehlen sie ein Schiff oder einen Hofstaat. Danach sind sie wieder Markus und Mia, sie können sich an ihre Tagträume erinnern und sie von ihrem wahren Leben unterscheiden. Bei identitätsgestörten Patienten gewinnen diese Tagträume ein Eigenleben. Sagen wir, Markus wird immer wieder zum gleichen Seeräuber, der einen Namen und eine Biografie zugelegt bekommt. Der Seeräuber hat seine eigenen Gefühle und Verhaltensweisen, er spricht rau und grob und stößt seine Spielkameraden herum. Er hat zudem ein eigenes Gedächtnis: Als Seeräuber kann sich Markus nicht an seine ursprüngliche Identität erinnern und umgekehrt. Und Markus hat keine Kontrolle, wann er zum Seeräuber wird. Plötzlich ist
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