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Wildnis: Thriller - Band 3 der Trilogie

Wildnis: Thriller - Band 3 der Trilogie

Titel: Wildnis: Thriller - Band 3 der Trilogie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valentin Zahrnt
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nichts erinnern könne. Carmen besann sich, dass Annas Zustand schon im Mai bedenklich gewesen war. Sie ging mit ihr zum psychologischen Notdienst, dann zur Gynäkologie. Anna war vergewaltigt worden. Allen Hinweisen nach von ihrem Vater.“
    Jan wäre am liebsten weggerannt, zurückgerannt in die Vergangenheit, um Anna vor diesem Schicksal zu bewahren. Er sah Farid hilflos an und der nickte traurig. „Im Laufe des Tages zeigte sich auch, dass Annas psychische Störung mit dem Tod ihres Vaters außer Kontrolle geraten war. Noch am Abend brachte ihre Mutter sie in eine geschlossene Anstalt. Dort blieb sie zwei Jahre. Dann konnten die beiden in eine betreute Wohneinheit zusammenziehen. Anna stabilisierte sich, das Verhältnis zu ihrer Mutter besserte sich, und nach einem knappen Jahr bezogen sie eine normale Wohnung. Das Haus hatte Carmen mittlerweile verkauft, sie wollte damit nichts mehr zu tun haben und brauchte Geld, um sich ganz ihrer Tochter widmen zu können. Anna besuchte eine Sonderschule und wurde zusätzlich ambulant therapiert. Mit fünfzehn wechselte sie aufs Gymnasium. Sie holte schulisch schnell auf, hatte jedoch Schwierigkeiten in der Klasse und litt an ihrem Stigma als Verrückte. Deswegen beschloss man, dass ein Neuanfang in einer anderen Stadt wichtiger war als die Beziehung zu den vertrauten Therapeuten.“
    Jan sah den Klassenlehrer vor sich, der mitten im zehnten Schuljahr ein schönes, verschlossenes Mädchen vorgestellt und alle aufgefordert hatte, auf sie zuzugehen. Er meinte, sich sogar an ihren Blick zu erinnern: wie aus einer Schießscharte. Natürlich hatte er sich nicht getraut, sie anzusprechen, und die Mutigeren hatten sich schnell eine Zurückweisung eingeholt. Und so war sie gut zwei Jahre lang allen fremd geblieben, bewundert, beneidet und begehrt.
    „ Ich habe nichts davon geahnt“, sagte Jan stockend. „In der Schule ... Sie war abweisend, und manchmal ... als wäre sie nicht da ...“
    „ Den Berichten nach hatte sie in dieser Zeit nur leichte Symptome und mit ziemlicher Sicherheit keinen Zugang zu ihren Teil-Identitäten. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie gesund war.“ Farid legte die Stirn in Falten. „Ich muss etwas weiter ausholen, um dir das zu erklären. Wenn Kinder einer extremen Belastung ausgesetzt sind, oder sagen wir deutlicher: wenn sie missbraucht werden, erleben sie Schmerz, Angst, Scham und völlige Hilflosigkeit. Dem können sie sich teilweise entziehen, indem sie depersonalisieren, das heißt, sie trennen sich von ihrer Selbstwahrnehmung und ihren Gefühlen und beobachten sich aus der Distanz. Das kann so weit gehen, dass die Opfer von der Zimmerdecke aus zusehen, wie ihr Körper missbraucht wird. Und nach dem Trauma errichten sie eine amnestische Barriere, sie erinnern sich nicht an das Schreckliche, das ihnen widerfahren ist. Das ermöglicht ihnen auch, eine positive Beziehung zu den Eltern aufrechtzuerhalten, in der Regel zum missbrauchenden Vater und zur hinnehmenden Mutter. Kinder erleben sich existenziell und affektiv abhängig, sie wollen den Glauben an die Eltern um jeden Preis bewahren. Dabei gehen sie oft so weit, sich selbst die Schuld am Missbrauch zuzuschreiben, sie glauben an ihre eigene Schlechtigkeit, dass sie nichts Anderes verdienen, oder was immer ihnen die Eltern eingeben.“
    Jan spürte die Wut, die in Farid brannte. Wie vielen Opfern mochte er zugehört haben? Farid öffnete die Hände, mit denen er die Lehnen des Korbstuhls umschlossen hatte, und sagte: „Ich möchte auf zwei Dinge hinaus. Zum einen, dass diese Erfahrungen so schrecklich sind, dass das kindliche Gehirn sie nicht normal verarbeiten kann. Es werden daraus keine rational erfassten, in einem größeren Kontext verorteten Erinnerungen, sondern es bleiben Fragmente, die jederzeit ins Bewusstsein gespült und als gegenwärtig wahr empfunden werden können. Zum anderen wollte ich dir erklären, wie sogenannte Täterintrojekte entstehen. Das sind Teil-Identitäten, die sich mit dem Täter identifizieren, weil die Kinder seine Autorität akzeptieren und die Elternbeziehung erhalten wollen. Solche Teil-Identitäten können die Opfer quälen und bestrafen, wenn sie längst keinen Kontakt mehr mit dem Täter haben. Sie sind der verlängerte Arm des Täters, der in das Opfer selbst hineinreicht. Erwachsene Frauen, die sich ins eigene Fleisch schneiden, sind keine Seltenheit.“
    Farid, der sonst immer einen dezenten Augenkontakt hielt, hatte seinen Blick nun an Jan vorbei

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