Wildnis: Thriller - Band 3 der Trilogie
fuhren an ihm vorbei, ehe ein abgehalfterter Geländewagen hielt. Der Mann in grüner Jägerkleidung fuhr durch Graal-Müritz, er kannte sogar die Wiedortschneise und brachte Jan auf einem Seitenweg bis zu einer Schranke.
Der Weg dahinter war mit Betonplatten ausgelegt, die immer mehr unter Sand verschwanden. Auch der Seegeruch wurde stärker. Jan stapfte auf eine Düne und sah das Meer vor sich liegen. In geringen Abständen liefen Reihen von dunklen Pfosten um die zwanzig Meter hinaus ins Wasser, die Wellen schwappten an ihnen entlang zum leeren Strand. Hier oben ging ein leichter Wind, das dünne, hohe Gras auf der Dünenkrone bog sich landeinwärts. Vielleicht war es so gewachsen, selbst die Bäume hatten sich dem Seewind angepasst.
Wo war Anna? War es ihr gelungen, bis hierher zu kommen? Würde sie sich zeigen? Er ging durch den tiefen, feinen Sand hinunter. Seine Spannung wuchs. Sie konnte ihn mit einer Identität aufgefordert haben zu kommen und mit einer anderen vergessen haben, dass es ihn überhaupt gab. Oder sie hielt ihn wieder für ihren Feind.
Heute Morgen hatte sie ihn verschont, mitten im Schlag mit dem Elektroschocker innegehalten, war übergangslos von der Aggression in die Depression gestürzt. Er hatte Glück gehabt – bei diesem Gedanken wurde ihm wieder flau zumute, er durfte gar nicht daran denken. Es war kein Verlass darauf, dass sie es nicht über sich bringen könnte, ihn zu verletzen. Beim Ringen um das Messer am Vortag hatte nichts darauf hingewiesen, dass eine innere Barriere sie davon abhalten würde, es ihm in den Leib zu rammen.
Wie würde es sein, ihr entgegen zu treten? Und würde er nicht immer einen Hauch Angst vor ihr bewahren, selbst nach einer Therapie?
Jan ging am Strand nach links, da er von der Handy-Karte wusste, dass dort über viele Kilometer keine Siedlung kommen würde, während rechts gleich ein Campingplatz lag und dahinter der Ort Graal-Müritz. Anna würde die Einsamkeit suchen.
Nach ein paar hundert Metern ging die Düne in eine senkrechte, stellenweise unterspülte Böschung über. Ein Baum war hinuntergestürzt, der Stamm entfernt worden, nur der Wurzelstock ragte aus dem Stumpf schräg nach oben.
Er versuchte sich mit dem auseinanderzusetzen, was sie beide bestenfalls erwartete. Er hoffte, dass sie in der Charité bei Farid bleiben könnte. Carmen würde dann sicher auch nach Berlin ziehen, irgendwo in die Nähe ihrer Tochter, nach Charlottenburg.
Wie oft würde er Anna besuchen dürfen? Und wie würden seine Besuche verlaufen? Ab wann würde Anna die psychiatrische Klinik in Begleitung verlassen dürfen? Und wenn sie immer nur durch den kleinen Park spazieren oder in ihrem Zimmer sitzen oder in einem Gemeinschaftsraum Tischtennis spielen konnten, würde daraus nicht eines Tages eine lästige Pflicht werden? Das war ein erschreckender Gedanke, doch er konnte sich dieser Fragen nicht erwehren. Wie könnte er die abwesende Anna mit der fröhlichen Germanisten-Clique und dem Studentenleben vereinbaren? Wie würde es ihm ergehen, wenn er noch Jahre auf den ersten Sex warten müsste? Er hatte sogleich ein schlechtes Gewissen, dass ihm das in den Sinn kam, aber es war richtig, auch daran zu denken.
Es gab so viele Unsicherheiten. Würde er sie noch lieben, wenn sie endlich entlassen werden würde? Ihre Gesichtsverletzung würde verheilen und selbst eine weitere Narbe ihrer Schönheit keinen Abbruch tun – diese Faszination würde bleiben. Aber wie anders würde sie werden? Hoffentlich glücklicher und gelöster. Und vielleicht würde sie ihn dann nicht mehr wollen ...
Zumindest würden seine Eltern hinter ihm stehen, wenn er diese unwägbare Aufgabe annahm. Sein Vater war stolz, dass sein Sohn einen solchen Fang gemacht hatte. Und er hatte ja auch seine Mutter geheiratet, nachdem er sie ungeplant geschwängert hatte, darauf konnte sich Jan berufen, das war auch eine Form von Loyalität, obwohl sein Vater die eheliche Treue danach allzu oft gebrochen hatte.
Seine Mutter würde ihn ohnehin unterstützen. Sie bewunderte an Anna die Unabhängigkeit, zu der sie sich selbst immer noch nicht hatte durchringen können, und sie hatte ein Faible für alles Spanische entwickelt, seit sie wusste, dass sie selbst die Tochter einer argentinischen Tänzerin war.
Aus den Augenwinkeln sah er eine Bewegung. Eine Gestalt stürmte einen steilen Weg in der Böschung hinunter. Sie trug einen braunen Mantel mit Kapuze und eine Sonnenbrille.
Er rannte ihr entgegen.
10.
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