Wildnis: Thriller - Band 3 der Trilogie
Hauptbahnhof hätte gehören können: schwarze Kacheln, Decken- und Bodenleuchten, Metallbänke mit Armlehnen für jeden Sitz, damit keine Obdachlosen darauf schlafen konnten.
Er verließ den Bahnhof. Der Himmel war blau, die Luft noch wärmer als in Berlin – dabei zeigte die Wetterkarte in den Nachrichten immer ein paar Grad weniger für die Ostsee an, aber es war ja auch später geworden, kurz nach Mittag.
‚ Konrad-Adenauer-Platz‘ stand auf einem Schild, und der Name war passend gewählt: ein Parkplatz, breite Straßen, Verwaltungsgebäude, Versicherungen, Blumenrabatten, alles sauber, zweckdienlich und bieder. Im Gewirr eines orientalischen Basars hätte er sich vorstellen können, seine unsichtbaren Verfolger loszuwerden. Aber was konnte er hier tun, außer in eines der großen Gebäude hineinzugehen und zu hoffen, dass es über einen Hinterausgang verfügte?
Niedergeschlagen folgte er der erstbesten Straße. Eine Tram kam aus ihrem Schacht gerauscht. Nein, es war keine gute Idee, dort hineinzulaufen, er würde sich nur in Gefahr bringen und wieder umkehren, und dann wüsste die Polizei, dass er sie erneut abhängen wollte. Gleich der erste Versuch musste Erfolg haben.
Aus literarischer Verbundenheit bog er in die Thomas-Mann-Straße ein. Der Verkehr hatte im Lauf der Jahrzehnte Fahrrillen in die Pflastersteine gedrückt. Eine Weile lief er durch Seitenstraßen und achtete unauffällig darauf, ob man ihm folgte. Tatsächlich sah er einige Wagen mehrfach. Es schien ihm unwahrscheinlich, dass sie zufällig umherkreisten, Parklücken gab es genug.
Ein Kehrrichtfahrzeug näherte sich von links aus einer Querstraße und hielt, um einem blauen Golf die Vorfahrt einzuräumen, der Jan langsam überholte. Jan blickte dem Golf nach, der war ihm mindestens schon dreimal begegnet. Das Kehrrichtfahrzeug stand immer noch da, der Fahrer hatte sich seitlich zum Handschuhfach gebeugt und kramte darin. Jan witterte seine Chance. Mit wenigen Schritten war er an der Heckklappe und kletterte hinein. Der Innenraum war leer bis auf einige Eimer, einen Besen und eines dieser Geräte, mit denen man mit viel Lärm Laub wegblasen konnte. Jan legte sich flach auf den Boden.
Sein Verfolger hatte ihn gerade passiert. Jan vermutete, dass der nächste noch keinen Sichtkontakt mit ihm aufgenommen hatte – ihn ständig doppelt zu beobachten wäre zu auffällig. Der Fahrer hatte seinen blinden Passagier auch nicht wahrgenommen, denn er fuhr an und zugleich erklang Schlagermusik. Er hatte im Handschuhfach wohl nach der CD gekramt. Doch Anwohner konnten ihn gesehen haben und die Polizei oder die Stadt informieren. Jan beschloss daher, die nächste Möglichkeit zum Ausstieg zu nutzen.
Das Kehrrichtfahrzeug fuhr einen Hügel hinab, um eine scharfe Kurve und dann recht schnell auf einer breiten Straße, bis es an einer Kreuzung halten musste. Jan kletterte heraus, nickte den verdutzten Frauen im Auto hinter ihm freundlich zu und entfernte sich rasch auf dem Bürgersteig. Niemand hielt ihn auf. Die Fußgängerampel schaltete auf Rot und Jan sprintete über die Straße. Auf der anderen Seite blickte er sich um.
Hinter ihm erhob sich eine Kirche oberhalb der Reste einer Stadtmauer, vor ihm lag die Förde. Entlang des Ufers reihten sich renovierte Speicher, in die Einkaufszentren und Restaurants Einzug gehalten hatten.
Auf einem Parkplatz fand er ein junges Pärchen, das mehrere Plastiktüten in ihrem Cabrio verstaute und gerne bereit war, ihn mit in die Rostocker Heide zu nehmen. Die beiden unterhielten sich eifrig über ihre Wochenendplanung und Jan brauchte nichts weiter zu sagen. Sie nahmen eine Brücke über die Förde, die sich zu einem Fluss verengt hatte, und ließen den Stadtrandgürtel mit seinem zwielichtigen Filmverleih, dem sensationell günstigen Bettenlager, der zu einem Service-Center aufpolierten KFZ-Werkstatt und den konkurrierenden Supermärkten hinter sich.
Die Heide stellte sich als urtümlicher Wald heraus, immer wieder von schilfdurchsetzten Tümpeln und birkenbestandenen Farnwiesen unterbrochen. Jan ließ sich an einem Forstweg absetzen und verkroch sich sogleich im Gebüsch. Es dauerte eine halbe Minute, bis das nächste Auto vorbeikam. Aus dem offenen Rückfenster wehten blonde Haare um ein Mädchengesicht. Das war wohl nicht die Polizei.
Nachdem er noch ein bisschen gewartet hatte, stellte er sich an den Straßenrand und hielt den Daumen hoch. Ein Mercedes mit einem älteren Ehepaar und ein vollbeladener Minivan
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