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Wildwasserpolka

Wildwasserpolka

Titel: Wildwasserpolka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michaela Kuepper
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los.
    »Stehen bleiben!«
    Ohne mein Nachtsichtgerät bin ich beinahe blind in dieser mondlosen Nacht, aber Ernie ergeht es ebenso. Also laufe ich weiter, die Senke hinunter.
    »Bleib stehen, sonst knallt’s!«
    Er klingt, als sei es ihm Ernst. ›Aus Spaß wurde Ernst‹, fällt mir ein uralter Witz meines Opas ein, weil Ernst doch Kempers Vorname ist und weil mir in heiklen Situationen die unpassendsten Dinge einfallen. Wann ich den letzten guten Sex hatte, zum Beispiel. Oder welche Kinderkrankheit bei Yannick noch aussteht. Dass ich Marmelade kochen wollte. Oder Erdbeeren pflücken gehen. Große, pralle, tiefrote, zuckersüße Erdbeeren.
    Ich bremse abrupt ab, strauchele, lasse mich zu Boden fallen.
    »Steh auf!«
    Ich stöhne.
    »Steh schon auf!«
    Ich stöhne lauter.
    »Nun mach endlich, oder ich …«
    »Mein Fuß! Ich bin mit dem Fuß umgeknickt.«
    »Ist mir scheißegal. Komm her und gib mir die Kamera!«
    Ich rappele mich auf, den Apparat in einer Hand, wende mich zu Ernie um und setze mich humpelnd in Bewegung.
    »Gib her!« Er reißt mir die Kamera aus der Hand, und ich weiche langsam zurück. Ernie sieht sich suchend um, fixiert mich wieder, bückt sich und hebt seine Stirnlampe auf, die er während unseres Kampfes verloren hat. Plötzlich Licht in der Dunkelheit, er hat sich die Lampe über den Schädel gestreift. Über sein Gesicht läuft etwas – Blut.
    »Bleib, wo du bist!«
    Ich stehe auf dem schmalen Weg, der aus dem Krater hinausführt, eine Felswand im Rücken. Mit erhobener Waffe kommt Ernie auf mich zu, schiebt sich an mir vorbei, und als ich schon fast zu hoffen wage, dass er mich einfach unbehelligt zurücklässt, trifft mich ein dumpfer Schlag am Hinterkopf. Der Vorhang fällt, ich sacke ohnmächtig zu Boden.

8
    Wer nichts beweisen kann, hat auch kein Recht zu klagen.
    Molière

    Irgendwann lande ich wieder auf dem Fahrersitz meines Mondeo. Meine Hände sind voller Blasen und mein Knie schmerzt, ich weiß schon nicht mehr, ob von dem Sturz auf dem Parkplatz am Siegufer oder von dem über die Baumwurzel.
    Ist diese Kombination von höllischem Brummschädel und flauem Gefühl im Magen bloß ein Stresssymptom oder Anzeichen einer Gehirnerschütterung? Ich kann mich zu keiner Entscheidung durchringen, doch das Ergebnis ist ohnehin einerlei, da mir Waskovic kaum drei Tage Bettruhe und eine fürsorgliche Krankenschwester gönnen wird.
    Vorsichtig taste ich meinen Hinterkopf ab, spüre eine dicke Beule dort, wo mich der Schlag mit der Waffe getroffen hat. Sie zieht sich bis zu der kleinen fleischigen Wulst zwischen Genick und Schädel, wo sie in eine verhärtete Stelle von der ungefähren Größe einer Büroklammer mündet.
    Ich greife nach meinem Rucksack, der auf dem Rücksitz liegt, und krame eine 600er Ibuprofen hervor, die ich mit einem Schluck Wasser hinunterspüle. So. Das wird mir hoffentlich helfen. Und es muss reichen.
    Ich öffne das Handschuhfach und hole meine Canon heraus – fast das gleiche Modell, das Ernie hat. Ein Griff in die Hosentasche meiner Regenkluft, und ich halte die Speicherkarte in Händen. Flink tausche ich die Karten aus, schalte die Kamera ein und muss lächeln, trotz der Schmerzen und meiner flatternden Nerven.
    Ich habe ihn reingelegt. Er hat meinen verknacksten Fuß nicht als Ablenkungsmanöver erkannt.
    Das erste Bild zeigt dunklen Waldboden und Buschwerk, und oben rechts, neben einem grellen Lichtreflex, ein Stück von Ernie. Der Kopf ist halb abgeschnitten und durch die Nähe verzerrt, aber deutlich identifizierbar – ebenso deutlich wie die Waffe, die er in seiner Hand hält, ein futuristisch aussehendes Ding, kurz und gedrungen, mit abgerundeten Kanten. Keine Ahnung, welches Modell das ist.
    Ich klicke rückwärts weiter. Ein Misthaufen und viel schwarzer Himmel, beides diagonal im Bild. Das nächste Motiv zeigt einen Zombie mit abgefahrener Brille, der versucht, eine Leiche in ein Loch zu rollen. Offenbar merkt er jedoch, dass er beobachtet wird, denn er wendet sein Gesicht direkt in Richtung Kamera.
    Noch ein Zombie-Foto, noch eins, und noch eins. Keine Frage, das bin ich.
    Auf der nächsten Aufnahme ist ein Haufen Männer um einen Tisch zu sehen, die sich gegenseitig zuprosten. Auf den ersten Blick erkenne ich keinen von ihnen. Der Zweite von rechts könnte der verwegene Buchhalter sein. Wie hieß er noch gleich? Salzmann. Stefan Salzmann. Der Mann neben ihm wendet sich gerade von der Kamera ab, sodass ich sein Gesicht nicht sehen kann, doch die Statur,

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