Wildwasserpolka
fahre ein Stück. Niemand soll misstrauisch werden, weil der Mondeo nach Einbruch der Dunkelheit auf dem Wanderparkplatz steht. Ziellos kurve ich durch die Gegend und halte nach einem Plätzchen Ausschau, an dem ich später die Nacht verbringen kann. Einfach nach Hause zu fahren, erscheint mir zu riskant. Ich will meine Familie nicht durch meine Anwesenheit in Gefahr bringen, und keinesfalls möchte ich der Polizei begegnen. Aber einen Schlafplatz zu finden, ist auf dem Land nicht so leicht, wie es scheint. In Wald und auf Wiesen abgestellte Fahrzeuge erregen immer Aufmerksamkeit, wohingegen man in den Dörfern damit rechnen muss, dass die Bewohner jedes Nummernschild kennen – und stutzig werden, wenn dort ein fremder Wagen über Nacht steht.
Wohin also? In der Dunkelheit ist die Situation noch schwerer einzuschätzen, als ich dachte, und so kehre ich nach einer halben Stunde um und entscheide mich für eine kleine Freifläche am Ortsrand des Dorfes Leuscheid. Hier, hinter den letzten Häusern, hoffe ich, ungestört bis zum Tagesanbruch parken zu können. Um zehn nach zehn steuere ich erneut den Blauen Stein an, schalte nach dem Abbiegen von der Schnellstraße das Licht aus und rolle im Schritttempo auf den Wanderparkplatz zu. Der Audi, der vorhin hier stand, ist fort, Anhänger und Trabi stehen unverändert an Ort und Stelle.
Ich ziehe die Arbeitshandschuhe an, breite die Plane aus dem Baumarkt auf dem Boden aus und öffne den Kofferraum. Jetzt heißt es beherzt anpacken: Augen zu und durch. Da ich möglichst wenig von Müller zu Gesicht bekommen will, nehme ich den Spruch wörtlich und angele blind nach seinen Beinen. Es klappt nicht, weshalb ich gezwungen bin, mich an seinem Körper entlangzutasten, was noch schlimmer ist. Also Augen auf und dem Schrecken ins Gesicht gesehen.
Ich schaue auf den toten Mann, auf sein feines schwarzes Haar, das im kalten Licht der Kofferraumleuchte glänzt, und prompt wird mir derart übel, dass ich mich übergeben muss. Es dauert eine Weile, bis das Zittern nachlässt und ich wieder einigermaßen bei Kräften bin.
Nein, so schaffe ich es nicht. Ich opfere eine meiner beiden Decken aus dem Fahrgastraum, die ich dort deponiert habe, weil es bei langwierigen Observationen verdammt kalt werden kann, und werfe sie Tom über. Halt! Nicht Tom. Das hier ist Thomas Helge Müller, ein Import-Export-Heini, ein Kerl mit verbrecherischen Neigungen; einer, den ich nicht kannte.
Ich fasse nach Müllers Beinen unter der Decke, ziehe, und bald hängen seine Füße aus dem Kofferraum heraus – mit nur einem Schuh. Ich zerre weiter, und der Körper rutscht ein Stück nach vorn. Plötzlich verkantet sich Müllers Hintern. Mein Gott, dieser Kerl ist schwerer, als er aussieht. Oder ich bin schwächer, als ich dachte.
Doch ich gebe nicht auf und endlich gelingt es mir. Müller plumpst aus dem Wagen direkt auf die Plane. Ich rolle ihn darin ein, winde ein Seil um ihn und zurre alles fest. Fertig. Es kann losgehen.
Ich packe Müller an den Fußgelenken und schleife ihn in Richtung Wald. Obwohl der Weg halbwegs eben ist, schlägt er dauernd mit dem Kopf auf. Nachdem ich links in Richtung Krater abgebogen bin, wird es noch schlimmer, ständig bleibt er irgendwo hängen. Ich bin schon versucht, ihn in einen Schuppen auf der Wiese hinter dem Wald zu zerren, aber dort sind allerlei Gerätschaften abgestellt, und falls der Bauer morgen zum Werkeln vorbeikommt, wird er direkt über Müller stolpern. Also keine Schwäche vortäuschen und weiter geradeaus.
Die Angelegenheit bleibt mühselig, ich kämpfe gegen die immer wieder aufwallende Übelkeit, und alle paar Meter muss ich stehen bleiben, um zu Atem zu kommen. Die Nacht hat tausend Augen, ihre Blicke prickeln auf meiner Haut. Mehr als einmal fahre ich herum, weil ich das deutliche Gefühl habe, angestarrt zu werden. Als ich auf Höhe des Kraterrands bin, wird es leichter. Der Weg führt von hieran bergab. Es kommt mir dennoch wie eine Ewigkeit vor, bis ich Müller an Ort und Stelle befördert habe. Der Schweiß rinnt mir den Rücken hinab, mein Atem geht stoßweise. Ich brauche eine Verschnaufpause. Wie spät ist es mittlerweile? Instinktiv will ich nach meinem Handy greifen, doch daran erfreut sich ja nun der Sprintkreismeister, und den gelben Knochen habe ich im Wagen gelassen. Meinem Gefühl nach muss es längst Mitternacht sein.
In der Grube hat es während meiner Abwesenheit einen kleinen Erdrutsch gegeben. Ich lasse Müller einen Moment liegen
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