Wildwasserpolka
die Kopfform, das feine, aschblonde Haar … Ich klicke weiter. Der Blonde schaut weiterhin in die andere Richtung, zum Kopfende des Tisches.
Vom nächsten Bild grinst mir Ernie entgegen. Er sitzt jetzt in der Runde und hat seinen Arm kumpelhaft um den Blonden gelegt. Kein Zweifel: Es ist Tom. Thomas Müller. Er sieht ziemlich besoffen aus – und verdammt lebendig.
Was ist das hier? Der Stammtisch der Sesamstraßen-Gang oder eine Sauftour der Holzhacker-Buben? Oder sind beide Cliquen identisch? Auf der Suche nach dem Sprintkreismeister betrachte ich die Männer am Tisch genauer. Er ist nicht unter ihnen, und ich entdecke auch keine weiteren bekannten Gesichter.
Ich klicke mich wieder nach vorn und lösche die Nachtaufnahmen, Bild für Bild. Nur den Schnappschuss, der Ernie mit der Waffe zeigt, entferne ich nicht.
Ich starte meinen Wagen und steuere den Schlafplatz an, den ich mir vor Stunden ausgeguckt habe. Kaum habe ich den Motor abgestellt, überrollt mich die Müdigkeit wie eine Flutwelle, und ich schlafe auf der Stelle ein.
Als ich aufwache, dämmert es bereits. Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigt Viertel vor sechs an. Keine Polizei, kein Salatohr-Ernie – für einen Moment hege ich die vage Hoffnung, alles geträumt zu haben. Aber läge ich dann im Nirgendwo auf meinem Fahrersitz? Wohl kaum. Und mit Sicherheit hätte ich keinen Toten im Kofferraum.
Meinen verschiedenen Bekannten habe ich nämlich zurück in meinen Wagen geschafft, noch in der Nacht, unmittelbar nach meinem Intermezzo mit Ernie.
Kaum zu glauben, ich habe meinen Schwur gebrochen und es getan: Ich habe direkt neben einem Toten geschlafen. Vielleicht nicht unmittelbar neben ihm – zumindest jedenfalls im selben Fahrzeug.
Die Übelkeit grüßt wie eine alte Bekannte. Ich schließe noch einmal die Augen und registriere, dass es im Wagen nach Pferdemist stinkt. Kein Wunder, auf der Rücksitzbank liegt die Regenkombi, die ich in der vergangenen Nacht getragen habe.
Ich lasse das Seitenfenster herunter. Die hereinströmende Luft ist feucht und kühl, aber nicht mehr eisig. Es soll warm werden in den nächsten Tagen – und bald wird hier auch noch etwas anderes riechen.
So geht es nicht weiter. Wenn ich diesen Müller nicht schnellstens loswerde, drehe ich durch.
Die einsame Leuscheid hat sich leider als vollkommen ungeeignet für meine Pläne erwiesen, deshalb beschließe ich, den Höhenrücken hinter mir zu lassen und mein Glück anderswo zu suchen. Ich biege auf die Schnellstraße in Richtung Rosbach ein, hinunter zur Sieg. Nach kurzer Fahrt blicke ich auf das Flusstal hinab, das im konturlosen Grau des beginnenden Morgens unter mir liegt. Ich rolle abwärts, passiere ein kleines Industriegebiet, eine Brücke über den Fluss. Ich kurve durch einen Kreisel, folge der Straße parallel zur Sieg in Richtung Schladern, stets auf der Suche nach einem ruhigen Plätzchen.
Nicht dass hier der Bär los wäre. Aber die Sieg ist nicht gerade der Mississippi, wie ich mir eingestehen muss – hier verschwindet nichts und niemand so schnell auf Nimmerwiedersehen …
Bald führt die Straße weg vom Fluss. Ständig den Rückspiegel im Auge behaltend, folge ich ihr, gelange nach Altwindeck, lande irgendwann vor dem Heimatmuseum. Im Schritttempo rolle ich weiter, die schmale Straße hinauf in Richtung Burg. Ich passiere mehrere Häuser und Gärten, gelange zu einer kleinen Wassermühle, einem Relikt aus der Märchenzeit: schwarz-weißes Fachwerk, von Birken umrahmt; das mächtige, hölzerne Schaufelrad dreht sich im Schneckentempo.
Oberhalb der Mühle, parallel zur Straße, findet sich ein von hohen Bäumen gesäumter Teich. Alte Zeiten, linde Trauer – die Szenerie atmet eine jahrhundertealte Melancholie, und doch … Ich kann mich nicht an sie erinnern, weder an die Mühle noch an den Teich. Allerdings liegt mein letzter Besuch der Burg Windeck gut und gern 15 Jahre zurück und es ist möglich, dass mir dieser Flecken einfach nicht im Gedächtnis haften geblieben ist.
Ich fahre ein Stück weiter, halte am Straßenrand und gehe zu Fuß zurück in Richtung Mühle. Auf der Weide dahinter schnattert eine Gruppe Gänse, ansonsten ist es still, sehr still. Stille Wasser sind tief – und so schwarz wie die vergangene Nacht. Okay, hier könnte es gehen.
Ich will mir die Sache näher ansehen, gehe über den schmalen Streifen Wiese auf den Teich zu, betrete einen Plankensteg – und rutsche prompt aus. Das Holz ist aalglatt. Fluchend rapple ich mich auf,
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